+

Welt-Bilder | 07.1 | Renaissance II - 27.11.2012

Created at 21. May. 2016

6047 Ansichten
by dorftv

Univ. Prof. Dr. Walter Ötsch
Vorlesung „Themen und Theorien der Kulturwissenschaften I“ an der Johannes Kepler Universität Linz im Wintersemester 2012

7. Stunde – Teil 1, 27.11.2012
Renaissance: Schritte zur Operationalisierung einzelner Wahrnehmungsakte: Einzel-Dinge und Einzel-Menschen II

Der Wandel des Sehens

Fortsetzung 3:. Perspektivisches Malen: ein neuer Realismus in der Bilder-Produktion

eine neue Art der Darstellungsform
eine eindeutigere Art der Weitergabe von visuellen Informationen
[Frage zu technischen Zeichnungen]
eine neue Bildtheorie
Zusammenhang mit einem Welt-Bild
eine neue Art des Sehens?

Ab Beginn des 15. Jhdts: erste Kunsttheorien dazu

Filippo Brunelleschi: Experiment zwischen 1412 und 1425

Battista Alberti (1404 – 1472): della pictura 1435

Theorie der Perspektive als rein geometrische Theorie
Die Sehpyramide von Alberti
Die Fluchtpunktperspektive nach Alberti

Ein neues Zeichenkonzept dabei

Leonardo da Vinci (1452 – 1519): Luftperspektive, 2 Pyramiden:

Das implizite Welt-Bild beim perspektivischen Malen

Im perspektivischem Malen wird eine Welt konstruiert, die aus dem Ich, aus den Dingen und aus dem Raum besteht. Die Gesamtheit dieser Konzepte bildet eine Einheit, – eine zusammenhängende Gesamtheit aus Innen- und Außen-Konstruktion.

Die Welt erscheint hier subjektiver und objektiver zugleich:

Subjektiver: das individuelle Auge, das individuelle Ich wird betont. Perspektivisch gemalte Bilder binden den Betrachter an den individuellen Standpunkt des Malers. Er malt sein Bild von seinem Beobachtungsstandpunkt aus, sie wird zur „Perspektive“ der Person, die dieses Bild betrachtet. Gombrich nennt das das „Augenzeugenprinzip“ (1994, 113).
Subjektivität des Betrachters: eine subjektive Konstruktionsleistung beim Ansehen, das Rätsel des Ansehens perspektivisch gemalter Personen.
Objektiver: Betonung von gleichbleibenden Aspekten in den Dingen. Die Dinge erscheinen hier mit sich ident. Die Geometrie der Welt bekommt einen objektiven Status, ein scheinbar neutrales Mess-Netz. Raum wird als geometrischer Raum gedacht. Geometrische Proportionen geben die Welt wieder, wie sie „wirklich“ ist.

Vgl. damit die Grundkonzepte bei Descartes

4. Die Homogenisierung der Weitergabe von Wissen durch den Buchdruck

Skriptographische versus typographische Kultur

Das soziale Schlüsselereignis des 15. Jahrhunderts

(1) Zusammenhang mit Reformation

„Selbstlesen“ der Heiligen Schrift, Luther erklärt die „Truckerkunst“ zum letzten Geschenk Gottes, nur Schrift als Autorität, Alphabetisierungskurse durch protestantische Gemeinden, in deutscher Sprache (MA: hebräisch, griechisch und Latein als „heilige Sprachen“)
Der römische Zentralcomputer wird durch viele nationale Speicher ersetzt.

(2) Neue Art der Wissensvermittlung

Bücher lösen sich von der Person des Lehrers
ab 16.Jhd: Schulbücher

(3) Rationalisierung der Büro-Kommunikation

z.B. Ablassbriefe ab 1454, Ablassformulare, Beichtformulare

Bürokratisierung der christlichen Magie, normierte Ablaufschemata für Messen und Kalender: erhöhte Selbstreflexion und größere Kontrollmöglichkeiten

(4) Normierung des Wissens

MA: die Bibeln, die Standardbibel ist ein Produkt der frühen Neuzeit

(5) Standardisierung der Nachrichtensysteme

z.B. päpstliche Bullen

(6) Neuartiges Langzeitgedächtnis der Kultur

im MA gibt es keine „Originale“, griechische Schriften mindestens aus 20. Hand.

(7) Neue Form der Darstellung visueller Informationen

„bei mir selbst betrachtet“, „abkonterfeien der Dinge“
Hörensagen, eigene visuelle Erfahrungen als Erkenntnisquelle
Normierung visueller Informationen anhand der Zentralperspektive

(8) Neue >Wirklichkeits<-Festlegung

die Gestalt der Dinge gehört zur Natur der Dinge, MA: 4 Elemente als Berührungs-Infos, jetzt: das Aussehen ist das Wissen.

(9) Neue Bezugsgruppe für >Wirklichkeits<-Informationen

Laien und Nichtgelehrte, Wiedererkennen von Orten, Tieren, Pflanzen, … aufgrund des bloßen Augenscheins ohne weitere Hilfe durch Experten, Zugang zu Wissen für alle.
Jetzt kann man technisches Wissen in symbolischer Form, losgelöst von Institutionen und Experten erwerben: Selbst-Studium, Selbst-Lernen.

(10) Neues Koordinatensystem für Wissen

Erfindung des richtigen Titelblattes: Informationen bekommen eine Entstehungsadresse
Ein neues Koordinatensystem: Autor, Titel, Erscheinungsjahr
eindeutige Lokalisierung jedes Buches in diesem Koordinatensystem.

(11) Neues Kriterium für Produktion von Wissen

Kriterium der „Neuheit“, nur neuartige, aktuelle Infos als Bücher, Abstraktionsleistung, Fortschrittsimpuls
Zukunftsperspektive: der Prozess der Wissensproduktion ist nach vorne offen.

(12) Neue Standardsprachen

Standardisierung der Volkssprachen
von Kommunikations- zur Sprachgemeinschaft

(13) Regulierung der Wahrnehmungsakte

Wahrnehmungen so regulieren, dass sie intersubjektiv wiederholbar und überprüfbar werden
Operationalisierung der Wahrnehmung
neue soziale Standardisierung der Wahrnehmung.

(14) Neue Dominanz des Sehens

mündliche Informationen verlieren an Bedeutung
die „inneren Sinne“ des Mittelalters verlieren an Bedeutung
visuelle Wahrnehmungen so modellieren, dass sie simulationsfähig wurde.
>Realität< durch scharfe >Außen<-Beobachtung [fokusiertes „Sehen“]
Der einzelne Mensch wird zum Subjekt des Erkennens:
Subjektivismus, Konstruktivismus (früher Aspekte Gottes!)

(15) Neues selbstreferentielles Sehen

Theorie des „richtigen“ Sehens im Einklang mit der Zentralperspektive
neue Wahrnehmungstheorien, Modelle der camera obscura
Sichtbar eindeutig gemachte >Dinge< entstehen.
Die Natur wird mehr und mehr in die Sprache der Geometrie gekleidet.

5. Individualisierungstendenzen in der Renaissance und der Reformation

Grundthese: Einzel-Dinge und Einzel-Menschen (Individuen)

Renaissance

das autonome Künstler-Ich

Easmus von Rotterdam (1466-1536)

Selbstreflexion in Briefen

Geronimo Cardano (1501-1576)

Autobiographie, Versuch, sein Ich wissenschaftlich-rational zu deuten, strenge Selbstanalyse

Michel de Montaigne (1533-1592)

Essays über seine Person, seine Empfindungen und Erfahrungen, Schreiben als Mittel der Selbsterkundung: „Ich bin es, den ich darstelle“

Theresa von Avila (1515-1582)

Mystikerin, psychologisches Selbstporträt

Porträtkünstler im 15. Jahrhundert:

Botticelli, van Eyck, Piero della Francesco, Leonardo da Vinci

Große Zahl an Porträts im 16. Jhdt.:

das Individuum als zentrales Motiv der Malerei
Von jeder bekannten Person gibt es in diesem Jahrhundert ein Porträt

Die Porträts zeigen Idealbilder: „tugendhafte“ Menschen in ihrem sozialem Stand

Selbst-Porträt von Dürer (1471-1528)

Selbstbildnis im Pelzrock 1500: die Christus-Ähnlichkeit des Menschen

Reformation

als neuer Individualisierungsschub: ein individualisiertes Christentum
Der Einzelne kann zu Gott eine individuelle Beziehung eingehen,
Die Vermittlung durch den Priester wird weniger wichtig
Teilweise Aufhebung des theologisch-klerikalen Sphären-Systems
Jeder Gläubige ist Gott nur vor seinem individuellen Gewissen verantwortlich
Idee der Eigenverantwortlichkeit
Idee der Gewissensfreiheit
Idee der Selbstkontrolle
Kritik der magischen Praktiken der Kirche (keine Kritik des Hexenglaubens)

Martin Luther (1483 – 1546)

als selbstbestimmtes Individuum
andauernde Selbstreflexion
seine Theologie reflektiert eigene Erfahrungen
dauernde Berufung auf das eigene Gewissen

6. Exkurs: wie kulturell „Fakten“ produziert werden

„Fakten“ bei Aristoteles

Wissen kommt nicht aus Einzelbeobachtungen, vor allen nicht durch eine einzelne Person.
Die Sinne sind nur mit Einzelphänomenen beschäftigt.
„Wissen“ = Erkennen des Allgemeinen
Nur eine allgemeine Erfahrung zählt: was immer oder meistens eintrifft.

Antike „Fakten“ sind empirischer Natur, getrennt von „Theorie“.

Einzelne Erfahrungen können Wissen nur illustrieren.

Sie können (aber müssen nicht) Evidenz produzieren.

Einzelne Erfahrungen sind nicht per se evident.

Nur jene „Fakten“ werden gesammelt und festgehalten, die mit dem „Wissen“ konform gehen.

Francis Bacon (1561 – 1626)

Philosoph und Politiker

De dignitate et augmentis scientiarum (erschienen 1623): ein erster Versuch einer Universalenzyklopädie
„Novum organon scientiarum“ (1620): eine Methodenlehre der Wissenschaften
Nova Atlantis (um 1641): eine Utopie

gilt als Vater des (neueren) Empirismus.

Ausgangspunkt von Wissen sind empirische Erfahrungen = Sinnes-Erfahrungen, inklusive dem Einsatz von wissenschaftlichen Instrumenten.

Später wird daraus das Programm einer Messbarkeit der Welt und das Konzept von Naturgesetzen.

Natura vexata: Erkenntnisse aus Experimenten

Induktive Methodik (inducere = hinführen): vom allgemeinen zum besonderen

(Gegenteile sind deduktive Methode und Rationalismus)

Das Induktionsproblem als Grundproblem des Empirismus

wie können aus Einzelbeobachtungen allgemein gültige Erkenntnisse gewonnen werden (z.B. Naturgesetze als Allaussagen)?

„Wissen ist Macht“

ein neues Konzept von Wissen

Das Ende der Zahlenmagie

http://www.walteroetsch.at/videos-von-vorlesungen/videos-zur-vorlesung-…

Videoproduktion: Alexander Grömmer und JKU
Video auf youtube: http://bit.ly/1qAmJ6G

Share & Embed
Embed this Video

Link to this Video

Add new comment

login or register to post comments.