„Wir sind zu einem großen Teil Nachkommen dieser Täter*innen, Dulder*innen, Mitwisser*innen [...].“

Anlässlich des Filmstarts der Dokumentation Wer hat Angst vor Braunau? diskutiert Martin Wassermair in der neuen Ausgabe der Sendereihe Der Stachel im Fleisch mit Johannes Waidbacher (Bürgermeister Braunau, ÖVP) und Günter Schwaiger (Filmemacher und Produzent) über das „unerwünschte Erbe“ und die Verantwortung im Umgang damit.

Bei der Frage nach der Verantwortung im Umgang mit Adolf Hitlers Geburtsort treffen unterschiedliche Positionen stellenweise hitzig aufeinander. Besonders in den letzten zehn Jahren wurde viel darüber diskutiert: Bis 2011 war das Haus frei für die Öffentlichkeit zugänglich, sodass es seit 1946 die unterschiedlichsten Einrichtungen beherbergte, darunter eine Schule, eine Bibliothek, ein Ausweichquartier für Banken und auch die Lebenshilfe, die dort eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen organisierte.

2011 jedoch wurde da Haus enteignet, da sich die Eigentümer*innen gleichgültig gegenüber den Weiternutzungsvorschlägen der Stadt zeigten. Daher wurde das Enteignungsgesetz erlassen, welches besagt, dass das Haus nun im Besitz der Republik Österreich ist und kein Ort werden darf, der „der Pflege, Förderung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts oder eines bejahenden Gedenkens an den Nationalsozialismus dient“.
Hinsichtlich der weiteren Nutzung gab es viele Gespräche und Diskussionen; zwischendurch war auch eine erneute Nutzung durch die Lebenshilfe im Spiel, die dann allerdings doch nicht zustande kam. Nach einer Entscheidung des damaligen Bundesministers für Inneres, Georg Peschorn, befindet sich heute eine Polizeistation im Geburtshaus Adolf Hitlers.

Filmemacher Günter Schweiger ist überzeugt, dass die Enteignung und damit einhergehende Verschließung des Hauses gegenüber der Öffentlichkeit ein Schritt war, der das Haus nur unnötigerweise mystifiziert und dabei hilft, Narrative von einer abstrakten, dunklen Bedrohung in diesem Haus zu schüren.
Seine Intention mit der Dokumentation Wer hat Angst vor Braunau? war, die Aufarbeitung der Mittäterschaft in Österreich anzustoßen, und zwar explizit die Rolle der Mitwisser*innen, Dulder*innen und Mitläufer*innen. Dabei gehe es ihm aber explizit nicht darum, Schuldgefühle im Publikum auszulösen; stattdessen möchte Schwaiger einen Prozess der Selbstreflektion anregen, den er als heilsam betrachtet. Es sei an der Zeit, dass Österreich sich seiner Vergangenheit stelle, anstatt diese zu verdrängen.

Er argumentiert weiter, die Braunauer*innen hätten auch ohne Eingriffe der Politik einen gesunden Umgang mit dem Haus und seiner Geschichte gefunden, da es schließlich auch vor der Verschließung des Hauses keine Neo-Nazi Aufläufe gegeben hätte.

Des Weiteren verweist er auf die Theorien zur Erinnerungskultur in Bezug auf die Shoah von Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die zwischen dem kulturellen und dem kommunikativen Gedächtnis unterscheidet. Ersteres beschreibt die Erinnerung, die sich in die Gesellschaft einprägt und Jahrhunderte überdauert. Der Zugang zu diesem Gedächtnis ist Schwaiger zufolge eher intellektuell und rational. Das kommunikative Gedächtnis dagegen sei das lebendige Gedächtnis; es umspanne die letzten 80 Jahre, also etwa drei Generationen und sorge für den emotionalen Zugang zur Erinnerungsarbeit. Schwaiger möchte mit seinem Film verhindern, dass die Erinnerung an den Holocaust bereits ins kulturelle Gedächtnis übergeht und stattdessen eine persönliche, introspektive Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglichen.

Waidbacher findet, man laufe Gefahr, das Haus mit der ganzen Aufmerksamkeit und Debatte zu überhöhen. Er sei sich seiner Verantwortung als Bürgermeister der Stadt bewusst, aber betont auch, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus Aufgabe der gesamten Republik Österreich sei und nicht nur auf Braunau abgewälzt werden dürfe. Schließlich sei die Stadt Geburtsort, aber kein Tatort; dort sei „relativ wenig passiert“.
Außerdem legt er Wert darauf, negative Vorurteile gegenüber der Stadt abzubauen, da Braunau keineswegs so braun sei, wie die meisten Menschen vermutlich meinen.

Sein Ziel als Bürgermeister sei es, seiner politischen Verantwortung nachzukommen, soweit er es als Lokalpolitiker könne. Dazu sei es am wichtigsten, jüngere Menschen über den Nationalsozialismus aufzuklären, um zu verhindern, dass sich so etwas je wiederholt. Konkrete Maßnahmen für diese Erinnerungsarbeit seien Stolpersteine, die vor den Häusern der Braunauer- Opfer ins Pflaster eingelassen werden sowie Gedenkfeiern und die Benennung von Straßen nach Opfern. Des Weiteren gebe es einen Mahnstein vor dem Geburtshaus Hitlers.

(Anmerkung der Redakteurin: Bundeskanzler Nehammer hatte im Rahmen der sogenannten „Neutralisierung“ des Hauses 2020 versucht, diesen Mahnstein ins Haus der Geschichte Österreich verlegen zu lassen, doch da der Stein auf öffentlichem Grund, außerhalb des enteigneten Hauses steht, gehört er immer noch der Stadtgemeinde Braunau. Diese beschloss, den Stein unverändert zu lassen).

Den Link zur vollständigen Diskussion findet ihr hier.

Verfasst von Vivian Grabowski am 11.09.2023