In der neuesten Folge von Wassermair sucht den Notausgang war die mexikanische Künstlerin Polina Porras Sivolobova zu Gast. Sie berichtet über die mexikanische Kultur, ihre Erfahrungen an der Grenze zu El Paso und über ihre Kunst, in der sie sich häufig auf das Frauenbild in Mexiko bezieht. Auch die hohe Femizid-Rate sowie die Strategien der Frauen im Umgang mit ihrer Situation werden thematisiert.

Polina Porras Sivolobova wurde in Russland geboren, verbrachte dann zehn Jahre in Juárez, der mexikanischen Zwillingsstadt von El Paso in Texas und lebt heute in Oaxaca, Mexiko. 
Moderator Wassermair bittet sie zunächst, die mexikanische Kultur aus ihrer Sicht zu beschreiben. Porras Sivolobova betont den synkretischen Charakter des Landes: Es sei ein Mix aus verschiedenen indigenen Gruppen mit eigenen Kulturen, sodass sich selbst Mexikaner*innen innerhalb ihres Landes nicht immer verständigen können. Außerdem präge der Kolonialismus der Spanier das Land noch immer enorm, da die durch die Ausbeutung und Unterdrückung entstandenen Wunden noch lange nicht verheilt seien. Besonders die Ressourcenverteilung innerhalb des Landes wurde extrem vom Kolonialismus geprägt: Menschen, die „spanischer“ – also weißer – sind als andere, seien auch wohlhabender, während die indigenen, farbigen Menschen zu den armen Bevölkerungsschichten zählen. 
Dies sei auch der Grund für die hohe Migration von armen Mexikaner*innen in die USA. Sie seien verzweifelt und würden sich bessere Chancen auf Jobs und Wohlstand dort versprechen. 
Die Künstlerin hat diese Dynamiken der Migration während ihres Aufenthalts in Juárez in den 90ern direkt miterlebt. Sie selbst sei damals in einer sehr privilegierten Position gewesen und habe ein „binationales Leben“ geführt. Sie habe in Juárez bei ihren Eltern gelebt und jeden Tag mithilfe eines Studentenvisums die Grenze überquert, um eine US-amerikanische Universität zu besuchen. Sie bezeichnet die Stadt als „No Man’s Land“; schon in den 90ern sei es eine sehr gefährliche Stadt gewesen, doch die Situation habe sich in den 2010er-Jahren noch verschlimmert. Lateinamerikaner*innen, die in die USA wollen, seien verschiedensten Gefahren ausgesetzt, ausgehend von der mexikanischen Regierung – dem Federal Government –, den Drogenkartellen und Mafiosi sowie von den Menschenschmuggler*innen selbst. 
Dieses Netzwerk von Kriminalität, wie es die Künstlerin bezeichnet, ist vor allem aufgrund des Zustands der weitgreifenden Straflosigkeit so erfolgreich. Besonders Verbrechen an marginalisierten Menschengruppen wie Frauen oder People of Colour würden praktisch nie untersucht und bestraft. Laut eines Berichts von AP-News werden in Mexico durchschnittlich zehn Mädchen oder Frauen pro Tag aufgrund ihres Geschlechts ermordet.* In vielen Fällen sucht niemand nach den verschwundenen Opfern. 

Porras Sivolobova erläutert die Gründe für die hohe Femizid-Rate. Zunächst spiele die Religion eine wichtige Rolle: Der Katholizismus ist aufgrund der kolonialen Geschichte die verbreitetste Religion in Mexiko, doch da es den spanischen Imperialisten nicht gelungen war, jegliche indigene Kultur auszulöschen, hätten sich Mischformen von christlich-katholischen und indigenen Bräuchen entwickelt. Die Figur „Virgen de Guadalupe“ beispielsweise gilt als Erscheinungsform der christlichen Jungfrau Maria und wird in großen Teilen Lateinamerikas als Mutterfigur verehrt. Diese Vorstellung einer keuschen, braven Frau, die still die Hausarbeit und Kindererziehung verrichtet, ohne Widerworte zu geben oder ihre Ideen zu äußern hat das Frauenbild in Mexiko sehr geprägt, so die Künstlerin. Als Frau könne man sich entweder diesem Stereotyp unterwerfen oder man gelte als „Hure“. Vonseiten der Regierung gäbe es zwar vermehrt Versuche, dies zu verändern, beispielsweise mittels eines Catcall-Verbots, doch der Sexismus sei sehr tief verwurzelt in der mexikanischen Kultur. 

Dazu käme, dass auch in Mexiko Frauen finanziell immer unabhängiger werden, indem sie arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen. Dies würde allerdings die Rolle des Mannes als Ernährer und Patriarch gefährden, wodurch viele Verbrechen an Frauen auch als Racheakt verstanden werden können. 
Porras Sivolobova zufolge haben fast alle Frauen, die in Juárez verschwunden sind, in den sogenannten Maquiladoras gearbeitet. Dabei handelt es sich um Fabriken, die von den USA nach Mexiko gezogen sind. Die Arbeitsverhältnisse in diesen Fabriken werden oft als Beispiel moderner Sklaverei verwendet. Sie sind meist in sogenannten „Freien Produktionszonen“ angesiedelt, in denen andere Gesetze gelten als im Rest des Landes. Frauen müssen dort unter menschenunwürdigen Bedingungen und für verschwindend geringe Löhne arbeiten, während die Produkte in den USA verkauft werden.*

Diese Frauen sind leider einfache Zielscheiben, da sie häufig ohne ihre Familie aus dem Süden Mexikos kommen und sich niemand für ihr Verschwinden interessiert. Besonders Kartellbesitzer würden Frauen oftmals „zum Spaß“ verschwinden lassen. Und selbst wenn Angehörige selbst versuchen, den Mord an ihren Frauen oder Kindern aufzuklären, würden sie oftmals selbst ermordet.

Mit Schutz und Rückhalt durch Polizei, Staat und Institutionen könne man also nicht rechnen. Generell sei es als Frau in Juárez gefährlich, sich allein auf der Straße zu bewegen, egal ob nachts oder tagsüber. 

Moderator Wassermair fragt die Künstlerin nach proaktiven Möglichkeiten im Umgang mit dieser Situation. Porras Sivolobova berichtet von Vernetzung der Frauen untereinander sowie von einer Veränderung der Einstellung. Viele Frauen würden sich die Unterdrückung langsam nicht mehr gefallen lassen und beginnen, Männern zu widersprechen und sich aus ihrer passiven Rolle zu lösen. Außerdem würden manche Selbstverteidigungskurse nehmen, um sich auf der Straße sicherer zu fühlen. Und auch die Demonstrationen am 8. März, dem internationalen feministischen Kampftag, würden zunehmend mit mehr Druck arbeiten. Die Sachbeschädigung im Zuge der Demos nehme beispielsweise zu und teils würde auch physische Gewalt an Männern ausgeübt werden.

Bei den feministischen Bewegungen in Mexiko geht es der Künstlerin zufolge hautsächlich darum, mit Stereotypen zu brechen. Dieses Ziel verfolgt sie auch mit ihrer Kunst. Porras Sivolobova arbeitet gern mit bekannten religiösen Bildern wie zum Beispiel der bereits erwähnten Virgen de Guadalupe sowie der biblischen Lilith und subversiert diese dann im Laufe ihrer Performances, welche sie am liebsten auf offener Straße durchführt. Aktivistische Kunst, die nicht für die Masse zugänglich ist, bezeichnet sie als „Predigt für den Chor“; daher sei ihr die niedrigschwellige Zugänglichkeit ihrer Arbeit wichtig. 

Hier findet ihr das vollständige Gespräch. 

Notiz: Eigene Anmerkungen der Redakteurin sind mit einem "*" gekennzeichnet.

 

Verfasst von Vivian Grabowski am 16.12.2020.