In der neusten Ausgabe der Sendereihe Literatur im Dorf war Anna Kim, die Autorin des Buches Geschichte eines Kindes bei Silvana Steinbacher zu Gast. Sie sprechen unter anderem über das Konzept „Rasse“, den Schreibprozess, die reale Vorlage für die fiktionalisierte Geschichte sowie die Einschätzungen der Autorin zum Rassismus in Europa, Österreich und Deutschland.

Der Roman Geschichte eines Kindes spielt 1963 in Green Bay im US-Bundesstaat Wisconsin und handelt von einem Jungen namens Daniel, der von seiner Mutterl Carol zur Adoption freigegeben wird und vorerst bei einem Sozialdienst landet. Schnell verhärtet sich unter den Betreuenden jedoch der Verdacht, dass der Junge nicht wie von der Mutter angegeben „weiß“ ist, sondern stattdessen „negrid“ - so der behördliche Begriff der damaligen Zeit. Für die homogene, weiße Gesellschaft, in der damals noch strenge „Rassentrennung“ herrschte ein absoluter Skandal. Nicht-weiße Kinder waren damals außerdem schwierig per Adoption zu vermitteln und so wird eine Sozialarbeiterin beauftragt, Nachforschungen über die wahre ethnische Herkunft des Kindes zu ermitteln anzustellen.
Diese Geschichte wird jedoch aus der Perspektive der koreanisch-österreichischen Schriftstellerin Franziska erzählt, welche im Jahr 2012 in Green Bay ein Sommersemester in einer Writers Residence verbringt. Es existieren also zwei Erzählstränge, die miteinander kontrastiert werden und sich stellenweise spiegeln.
Die Geschichte des Jungen basiert auf einer wahren Begebenheit. Es existiert also ein „echter Daniel“, mit dem Kim auch befreundet ist. Sie habe beim Schreiben jedoch sehr darauf geachtet, ihn stark zu fiktionalisieren, damit er sich nicht selbst in dem Buch finden und sich „ausgestellt“ fühlen müsse.

Die Autorin hat bereits verschiedene Werke verfasst, die in spezifischen historischen Settings spielen; ihr Roman „Große Heimkehr“ handelt zum Beispiel von der Willkürherrschaft in Nord- und Süd-Korea am Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie ist es also gewohnt, während des Schreibprozesses eine Menge zu recherchieren, und so auch im Fall Geschichte eines Kindes. Tatsächlich war es der Zugang zu den Akten der Erzdiözese Green Bay, in denen der reale Fall festgehalten wurde, die den Anstoß zu dieser Geschichte lieferten. Diese Akten seien dermaßen schockierend gewesen, dass Kim erst überlegt hatte, sie einfach in übersetzter Form zu veröffentlichen. Diese Idee hatte sie jedoch wieder verworfen, da der bürokratische Stil zu repetitiv und unliterarisch sei. Besonders das Aussehen des Kindes sei immer und immer wieder genauestens beschrieben worden. Dabei habe der Fokus vor allem auf seiner genauen Hautfarbe und Haarstruktur gelegen, doch auch andere Körperteile seien genauestens vermessen worden. Selbst sogenannte Intelligenztests für Babies seien durchgeführt worden – dabei handele es sich eigentlich um Reaktionstests, mit deren Hilfe man die Job- und Ausbildungschancen des Kindes bestimmen wollte.
Interviewerin Steinbacher merkt an, dass sie diese Stellen als besonders schwer zu lesen empfunden habe. Schließlich wird dieses Vermessen von Menschen, die als fremd wahrgenommen werden, im Namen der Wissenschaft schon seit den Anfängen der Kolonialzeit praktiziert, und auch im Nationalsozialismus wurden diese menschenverachtenden Verfahren zuhauf angewendet. Es sei schockierend, dass sie selbst in den 50er Jahren in den USA noch immer durchgeführt wurden.

Kim erläutert, dass ihr insbesondere die Frage nach der Rolle der Wissenschaft beim Verfassen des Buches wichtig gewesen war. Sie möchte herausstellen, wie stark Wissenschaft von gesellschaftlichen Konventionen beeinflusst und gesteuert wird sowie das Konzept der objektiven Wissenschaft hinterfragen.

Doch auch die Sprache und der Tonfall der Akten haben die Autorin stark beeinflusst. Sie verzichtet bewusst auf beschönigenden Begriffe, um die Brutalität der damaligen Begriffe nicht zu kaschieren. Auf diese Entscheidung weißt sie im Vorwort des Romans hin.

Für den zweiten Erzählstrang, der zu Beginn von Obamas zweiter Amtszeit spielt, habe sie sich entschieden, um die „Geschichte in die Gegenwart zu holen“ und auch ihre eigene Perspektive auf Europa, Österreich und Deutschland einzubringen. Sie berichtet, dass sie selbst vermehrt Opfer von Racial Profiling werde und die Frage nach ihrer Herkunft gerade in Österreich ständig käme.

Neben des neuen Romans wurden auch Kims Aufenthalte in Grönland, ihre Einschätzung zum aktuellen Literaturmarkt sowie die Aufgabe der Kunst thematisiert.

Das vollständige Gespräch findet ihr hier.

Verfasst von Vivian Grabowski am 28.09.2023