Droht ein Abstieg in die Radikalisierung?

In dieser Ausgabe von Denken Hilft spricht Walter Ötsch mit dem Politikwissenschaftler Thomas Biebricher über sein Buch Mitte/Rechts – Die internationale Krise des Konservatismus. Biebricher erläutert anhand verschiedener historischer Beispiele, weshalb die Rolle konservativer Parteien besonders dann nicht zu unterschätzen ist, wenn rechtsextremes Gedankengut zunehmende Popularisierung erfährt.

Zunächst bittet Ötsch seinen Gast um eine Begriffsdefinition: Was ist Konservatismus eigentlich?

Biebricher definiert zwei Kerrnonzepte: die philosophische sowie die politische Ebene. Dem Politikwissenschaftler zufolge sind Konservative grundlegend von einer natürlichen, guten Ordnung überzeugt, die es zu schützen gilt. Die Tragik dieser Idee liegt jedoch darin, dass Konservative oftmals selbst gar nicht genau wissen und nicht benennen können, was sie konkret bewahren wollen.
Erst dann, wenn die „natürliche“ Ordnung durch andere Weltanschauungen und Ideen angegriffen wird (Vertreter*innen dieser Ideen werden dann meist als Feindbild konstruiert), schreiten Konservative zur Tat und versuchen, diese Veränderung – teils mit künstlichen Mitteln wie dem Erlass von Gesetzen – aufzuhalten.
Das Problem: In dem Moment, indem andere Gruppen die alte Ordnung in Frage stellen, ist diese vermutlich schon längst nicht mehr so natürlich und selbstverständlich, wie konservative Menschen angenommen hatten. Biebricher argumentiert also, dass Konservative ständig versuchen etwas zu bewahren, das entweder im Wandel oder bereits verloren ist – Familienstrukturen seien dafür ein gutes Beispiel.
Die politische Ebene des Konservatismus beschreibt als ein langsames „Auf-Sicht-Fahren“, bei dem auf neue Krisen reagiert werden soll, ohne die altbewährten Institutionen und Konventionen über Bord zu werfen. Diesen Grundgedanken könne man zum Beispiel bei der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederfinden.

Danach geht es um die Geschichte des Konservatismus in verschiedenen europäischen Ländern. Ötsch steigt 1994 in Italien beim sogenannten „Berlusconi-Effekt“ ein: der ehemalige Ministerpräsident Italiens habe den faschistischen, nationalistischen Parteien Lega Nord und Alleanza Nazionale im Vorfeld der Wahl 1994 Koalitionsangebote gemacht und diese Ideologie so „mit einem Schlag salonfähig“ gemacht. Berlusconi selbst habe damals nur im opportunistischen Eigeninteresse gehandelt, doch die Konsequenzen sind gravierend – die Alleanza Nazionale ist die Vorgängerpartei von Melonis postfaschistischer Partei Fratelli d‘Italia, welche heute noch mit vollem Namen Fratelli d‘Italia – Alleanza Nazionale heißt.

Eine ähnliche Dynamik habe man in England im Vorlauf des Brexits beobachten können, so der Politologe: die konservativen Tories, die in einem ständigen Wettstreit mit der Labour-Partei stehen, sahen sich stark von der rechtspopulistischen UKIP, der UK Independence Party bedroht. Diese hatte zwar damals nur wenige Mandate im Unterhaus, doch funktionierte als Bedrohungsszenario, denn sobald die Tories gegen die UKIP antreten, würde sich die rechte Wählerschaft zersplittern und somit die Niederlage gegen die Labour Partei drohen. Daher übernahmen die Tories viele Positionen der UKIP, unter anderem die Pro-Brexit Einstellung.

Biebricher formuliert auch eine größere Theorie zum Aufstieg des Rechtspopulismus: Nachdem der Fall der Sovietunion sozusagen den Sieg des Kapitalismus markierte, griff ein radikalisierter Kapitalismus, der Neoliberalismus, global um sich. Der Neoliberalismus stellte eine Gefahr für den Konservatismus dar, denn: „die disruptiven Wirkungen eines deregulierten neoliberalen Systems“ seien „kein gutes Umfeld für jemanden, der Dinge und Lebensformen bewahren will und sich um die Gemeinschaft sorgen macht“, so Biebricher. Die Neoliberalisierung resultierte in einem harten Individualismus scheint, wie man anhand der Entwicklungen in verschiedenen Ländern beobachten kann, eine Öffnung hin zu autoritären, rechtspopulistischen Vorstellungen zu begünstigen.

Doch was ist nun der Zusammenhang zwischen Konservatismus und Rechtspopulismus? Biebricher betrachtet konservative Parteien als „Gatekeeper“ von rechtsextremen Gedankengut; sie könnten darüber entscheiden, welche Ansichten in die Mitte der Gesellschaft vordringen dürfen und welche nicht. Wenn diese Parteien verschwinden oder eben sich selbst radikalisieren, so sei dies eine besorgniserregende Entwicklung.

Was konservative Parteien dringend brauchen sind eigene Positionen zum Thema Klimakatastrophe, so Biebricher. Es sei ein genuin konservatives Thema, da es um Bewahrung und Erhalt geht, und man könne leicht die gleiche Argumentation wie beim Thema Schuldenbremse implementieren. Bei diesem Thema wird schließlich ständig auf die Zukunft der eigenen Kinder verwiesen wird, denen man keine Schuldenlast auferlegen möchte.

Hier geht es zum vollständigen, ausführlichen Gespräch.

Verfasst von Vivian Grabowski am 09.09.2023