Vielen Dank. umgebauten Kuh- und Schweinestall mit Reinhard Kaiser-Mülle, der knallvoll war und zu einem Kulturzentrum umgebaut wurde in Sirning, glaube ich. Ich hoffe, ich sage nichts Falsches. Und das ist auch eine Brücke zu dem heutigen Roman in gewisser Weise, denn es geht um unter anderem um das durchwachsende Verhältnis zwischen Mensch und Tier, so könnte man meinen. Der Mensch, das Schwein, die Krone der Schöpfung. Ein Aperçu des expressionistischen Lyrikers Gottfried Ben könnte das Motto von Naba Ebrahimi's Roman und Federn überall sein. Dieser nimmt also nicht nur das durchwachsende Verhältnis von Mensch und Tier in den Blick, sondern er wirft auch Schlaglichter Jahren herkommt, also aus der Post-68er-Bewegung, wo man sich angeschaut hat, wie sind eigentlich die Arbeitsverhältnisse der Menschen, was passiert denn da in den Fabriken. In gewisser Weise knüpft Nava Ibrahimi daran an, zumindest habe ich das reingelesen. Es geht aber natürlich auch um den Fluchtpunkt, der uns heute umtreibt, nämlich wie wird denn Arbeit heute ersetzt? Stichwort KI. Nava, wir haben in den letzten Jahren in den deutschen Medien, und du kommst ja ursprünglich auch aus dem Journalismus, hast eine Journalistenausbildung gemacht, auch als Journalistin gearbeitet. Wir haben in den letzten Jahren viele Skandale in Schlachthöfen beobachtet, in Deutschland, in Bayern, in Norddeutschland. Es gab Hygieneprobleme, es gab natürlich Tierrechtsverletzungen, Tierschützer sind aufmarschiert. War das ein Anlass für dich, diesen doch für die Literatur eher ungewöhnlichen Topos des Flachthofs zu entdecken für dich? Nein, eigentlich gar nicht. Also die Tradition der Arbeiterliteratur oder der Literatur über Fließbandarbeit hatte ich auch nicht so auf dem Schirm. Also mein Ansatzpunkt ist eigentlich ein anderer. Vor sieben, acht Jahren habe ich von einer Krankheit gehört, die Masthühnchen befällt. Und zwar nannte sich diese Krankheit Wooden Breast, also verholzte Brust. Und das geschieht, also das ist vermutlich eine Folge der Züchtung. Also man züchtet ja die Masthähnchen sehr oft Profit und unter anderem, dass das Brustfleisch relativ groß ist, weil das kann man am gewinnbringendsten verkaufen. Und all das hatte ich aber noch gar nicht so auf dem Schirm. Von diesem Namen Wooden Breast, weil ich hatte das Gefühl, also ich musste das irgendwie gleich so ein bisschen nachempfinden, wie das wohl ist als Lebewesen mit verholzter Brust. Und dann hatte ich irgendwie auch das Gefühl, dass es so eine geshärten müssen, dass wir nicht mehr so viel Leid an uns ranlassen dürfen, dass jeder so ein bisschen schauen muss, wo er bleibt, also dass alles enger wird. Irgendwie habe ich da so eine Kombination, so eine Brücke für mich so empfunden. Und dann habe ich eine Weile später, war ich auf einer Gartenparty und da hat, da liefen Hühner rum und da hat ein Gast, hat irgendwie eine Beziehung zu einem dieser Hühner aufgebaut und dann saß das Huhn irgendwann auf dem Schoß und der Partygast hat es mindestens eine halbe Stunde lang gekrault und das Huhn hat es total genossen und das war für mich so, es hat mich so irritiert, weil Hühner sind ja die absoluten Nutztiere. Also kein Tier ist eigentlich so geknechtet wie das Huhn durch uns. Schwein. Ja, aber der Fleischkonsum geht tendenziell runter. Jetzt gibt es vielleicht wieder so eine Kehrtwende, aber Huhn explodiert. Also weil überall auf der Welt isst man Huhn in jeder Religion und dazu kommt jetzt dieser Proteinwahn, dass man irgendwie viel weißes Fleisch isst, steht auch nicht im Verdacht, krebserregend zu sein und alles. Also Huhn nimmt einfach massiv zu. wird und es genießt, es hat es wirklich genossen, bin ich mir sicher, das hat mein Denken so herausgefordert. Also das hat mich wirklich so in meiner Wahrnehmung und ich hatte in dem Moment das Gefühl, wenn es sein kann, dass ein Huhn etwas, so eine Streicheleinheit so dermaßen genießt, dann ist vielleicht alles ganz anders, als wir denken. Also ich finde halt, es war weniger jetzt der Schlachthof oder das Verhältnis zum Tier, sondern ich habe eher an diesem Verhältnis zum Tier sind mir gewisse andere Dinge aufgefallen, die ich halt wirklich interessant finde an uns. Eigentlich dieser Schlachthof und das Fleischessen und so ist eigentlich ein sehr gutes Exempel dafür, wie gut wir verdrängen können. Also wir alle, mich eingeschlossen, die meisten von uns essen Fleisch, aber niemand will sehen, wie es produziert wird, wie die Tiere geschlachtet werden. Wir wollen es alle nicht sehen. Wenn wir kurz mal Bilder sehen, sind wir schockiert und dann verdrängen wir es wieder. Und das kann man auf ganz viele andere Dinge in unserer Gesellschaft eigentlich übertragen, dass wir einfach unsere Augen verschließen vor Dingen, obwohl sie in unserem Alltag so präsent sind. Und ein letzter Satz noch. Und dann hatte ich auch noch das Gefühl, dass eben unser Verhältnis zum Tiere-Essen, zum Fleisch-Essen so krass von sozialen Konventionen geprägt ist. Also wir lieben unseren Hund, wir lieben unsere Katzen. Man kann sogar den Hund klonen, das Haustier klonen lassen in Südkorea für 200.000 Euro, was Leute machen. Zu Farmer kaufen, Hunde und Katzen. Genau, genau. Und zu Hühnern oder zu Schweinen sind wir halt so gemein. Und das basiert ja nur auf einer sozialen Konvention, die wir so wenig hinterfragen. Und eigentlich denke ich mir halt, es wäre Zeit, dass wir gewisse Dinge hinterfragen. Weil wenn wir so weitermachen... Und man ist geschockt, wenn in China Hunde gegessen werden. Um Gottes Willen, was wir mit den Nutztieren machen. Genau. Ja, ist völlig egal. Also es gibt offenbar Tiere, die sind zum Liebhaben da und dazu da, affektive Bindungen zu entwickeln und die anderen sind dazu da, gequält, gezüchtet und industriell ausgewertet zu werden. Im Sinne der Genesis macht euch die Erde untertan mit allem, was da fleucht und kreucht. Trotzdem, ich komme noch einmal, bevor wir über diesen Schauplatz sprechen und das Formale, vor allem wie der Roman konstruiert ist, was ja auch sehr, sehr interessant und mutig ist. Noch einmal zum Schauplatz möchte ich zu sprechen kommen. Und zwar das Interessante ist, was du jetzt gerade beschrieben hast, merkt man ja auch in dem Buch. Also in diesem Betrieb, er heißt Möllring, ist ein fiktiver Betrieb, der im Emsland sozusagen der wichtigste Arbeitgeber der Region natürlich ist, werden pro Tag 600.000 Hühner geschlachtet. Und diese Zahlen stimmen auch tatsächlich mit so Spitzenbetrieben in der Region überein. In der Region ist der Spitzenbetrieb, glaube ich, bei 450.000 Hühnern täglich. Aber es gibt in Frankreich, also es gibt diese Betriebe, die auch über 600.000 täglich schlachten. Und das Interessante ist, es wird beschrieben, also diese lebenden Hühner, also Tiere, werden da angeliefert. Die sieht aber keiner. Keiner sieht die lebenden Tiere. Die werden da irgendwo hingeliefert, in LKWs verschlossen. Dann ist da eine Blackbox und dann kommen sie am Fließband wieder raus als Hühnerbrust. Und der Job einer Protagonistin ist es nämlich, händisch abzutasten, ob diese Hühner eine Wooden Breast haben, wovon du gesprochen hast, also eine Art Verhärtung. Weil dieses Hühnerfleisch kann man dann nicht verkaufen als Hühnerbrust, sondern daraus kann man nur Tierfutter machen. Oder Nagels. Die muss das händisch, Sonja heißt die Protagonistin, die muss das händisch aussortieren. Allerdings ist gerade eine Optimiererin im Betrieb, eine Prozessoptimiererin, die daran arbeitet, dass die KI diese doch sehr unangenehme Arbeit übernimmt. Das heißt, wir haben in diesem Roman verschiedene Figuren, die mit dieser sein soll, Rationalisierungsprozesse umzusetzen, den Manager, der für Prozessoptimierung zuständig ist und noch andere Figuren, auf die wir noch zu sprechen kommen. Jetzt würde mich aber trotzdem interessieren, als ich das las, ich meine, ich bin keine Expertin auf dem Gebiet, ich esse auch ehrlich gesagt seit 20 Jahren kein Fleisch, aber mir ist vorgekommen, du kennst diesen Ort schon sehr gut. Jetzt frage ich mich, wie geht das überhaupt? Es gab so viele Skandale rund um Schlachthöfe in Deutschland. Hast du da irgendwie Recherchen vor Ort betrieben? Ich weiß nicht, wie funktioniert das, wenn man deinem Manager sagt, ich schreibe einen Roman über einen Geflügelschlachthof, dann sehen die ja sofort alle Red Flags und öffnen wahrscheinlich nicht Tür und Tor. Wie hast du dir denn dieses Wissen angeeignet überhaupt? Also es war so, ich war in einem Betrieb und ich war aber nur in dem Weißbereich. Also es gibt den Schwarzbereich, da ist die Schlachtung und dann gibt es den Weißbereich, da kommt dann quasi schon das Huhn aber gerupft und ausgeweidet und so kommt schon am Fließband raus und wird dann im Weißbereich nur noch zerlegt. Das ist auch die Zerlegung. Ja, der Betrieb lässt eigentlich niemanden rein, also nur landwirtschaftliche Gruppen. Und ich habe dann mit viel Überzeugungsarbeit und so habe ich auch eine Führung bekommen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich keinen Tier- oder Schlachthof-Skandal schreiben möchte. Also ich möchte, das interessiert mich nicht. Also ich wollte es nicht skandalisieren. Ich wollte eigentlich die Normalität zeigen. Also dieses, was einfach tagtäglich, die normale Arbeit, die tagtäglich passiert., bleiben halt einfach. Aber es ist eben kein Skandalisierungsroman geworden und ich glaube, das haben die mir dann auch geglaubt und haben mich reingelassen. Also zumindest habe ich eine Führung bekommen. Aber ja, sie lassen einen nicht gerne rein. zum Formalen noch, bevor du aus dem Text etwas vorliest. Du hast da einiges gewagt. Am Theater würde man sprechen von der Einheit des Ortes und der Zeit. Das heißt, das ist ein Roman, der spielt an einem einzigen Tag, im Wesentlichen an einem Ort, nämlich diesem Geflügelschlachthof Möllring, der wichtigste Arbeitgeber der Region. Es gibt quasi noch so Schauplätze, die diesen zentralen Ort flankieren, aber am Ende ist dieser Ort auch der Fluchtpunkt in einem absurden Gruppenbild. Wir wollen nicht zu viel verraten. Das ist ja eigentlich eine ziemliche Herausforderung, sich so zu beschränken auch formal. Also du hast sechs Figuren, die verschiedene eben, die Fließbandarbeiterin, die Prozessoptimiererin, den Manager, die anderen Figuren sprechen wir da noch und die erzählen jeweils aus ihrer Perspektive, was an diesem Tag passiert. Das ist also multiperspektivisch aufgefächert. Aber das ist natürlich eine irrsinnige Beschränkung, wenn man nur diesen einen Tag hat. Warum hast du dir das angetan, wenn man so will? 10.000 Möglichkeiten und durch diese Beschränkung leitet man sich dann eben zu einem, also man muss sich irgendwie beschränken und ich mag auch Herausforderungen. Bei mir ist das ja so, ich kenne das Ende immer schon, wenn ich anfange zu schreiben, also ich habe dieses letzte, habe ich so das letzte Bild, die letzte Szene, habe ich so fast ein bisschen wie eine Vision von meinem geistigen Auge und ich habe den Anfang und ich habe die Figuren und dann schreibe ich los. Ich weiß aber nicht, wie ich zu diesem Ende komme. Und ich brauche eine Herausforderung, die mir dann selbst beim Schreiben auch den Spaß bereitet. Also ich muss mich selbst auch überraschen können beim Schreiben. Also ich muss mich selbst auch überraschen können beim Schreiben. Das ist für mich immer so das Kriterium, weil ich, wie die meisten Schreibenden, natürlich ständig an mir selbst zweifle und ständig denke, das ist totaler Schwachsinn. Alles, was du schreibst, ist quasi für die Mülltonne. Und das Einzige, was mich immer so bestärkt, nee, irgendwie ist es nicht so schlecht, wenn ich selber Spaß habe, weiterzuschreiben und ich mich selber immer wieder überrasche. Und ich mochte an dieser Beschränkung auch, dass die Figuren zwar schon Biografie mitbringen, viel Biografie, die ich auch kenne, aber ich mochte es nicht ständig so viele Rückblenden haben zu müssen. Also man kriegt ja schon ein bisschen Biografie mit von den Figuren, aber nicht wahnsinnig viel. Und ich wollte mir auch selbst die Aufgabe stellen, dass man sie an dem Tag durch das, was sie sagen, durch das, wie sie sich verhalten, wie sie in Beziehung sind, dass man sie darüber kennenlernt. wie sie in Beziehung sind, dass man sie darüber kennenlernt. Okay, das heißt sechs Figuren erleben einen Tag. Ich zähle jetzt kurz auf, bevor wir eine dieser Figuren kennenlernen. Das ist Merkhausen, der Manager von Möllring. Anna, die Prozessoptimiererin, die als externe Expertin daran arbeitet, dass die KI die Fließbandarbeit ersetzt. Dann Justina, eine Krankenpflegerin, Altenpflegerin, die ein Verhältnis mit einem 20 Jahre jüngeren Flüchtling aus Afghanistan unterhält, Nassim. Die leben alle in diesem Ort, wo der Geflügelbetrieb sozusagen der Platzhirsch ist. Dann haben wir Sonja, die Fließbandarbeiterin, Alleinerzieherin und Roshi. Und wir erfahren eben Kapitel für Kap zu der Autorin Nava Ebrahimi. Sie stammt aus dem Iran und ist eine hochdekorierte Autorin. Und sie soll ein Gedicht übersetzen dieses Flüchtlings Nassim, der Lyriker ist. Und ja, wir lernen jetzt gleich die Figur kennen. Vielleicht willst du auch selber noch etwas dazu sagen zu diesem Alter Ego. Ja, Alter Ego, ja, vielleicht ein bisschen. Also sie ist schon doch auch ein bisschen anders als ich, aber sie kommt halt aus Köln, also als Städterin in diesem Ort und wundert sich halt erstmal, dass man ohne Auto nicht vom Fleck kommt. Also sie ist für mich auch so ein bisschen, also sie kommt eben von außen dorthin und wollte eigentlich gar nicht. Also sie hat sich von Nassim überreden lassen, seine Gedichte zu übersetzen. Und deswegen hat sie so ein Widerwillen. Sprühregen empfängt mich. Ansonsten nicht viel. Kein Bahnhofsgebäude, kein Bahnhofs-Supportplatz. Sprühregen empfängt mich, ansonsten nicht viel. Kein Bahnhofsgebäude, kein Bahnhofs-Sportplatz, nur je eine Haltestelle in beide Richtungen und eine Fußgängerbrücke über die Schienen. Wie immer bin ich falsch angezogen. Richtig für Köln-Ehrenfeld, falsch für hier. Ich trage einen Wollmantel ohne Kapuze. Doch es gibt beides, schlechtes Wetter und schlechte Kleidung. Ich stelle mich im Wartehäuschen unter, um in meinem Telefon nachzusehen, wo ich bin. Die Stadtmitte, der Marktplatz, liegt eine Stunde zu Fuß entfernt. Die Pension ist noch ein Stückchen weiter weg. Die Route für Fußgänger unterscheidet sich nicht von der der Autos. Das verheißt nichts Gutes. Ein Güterzug donnert an mir vorbei und nimmt die Papiertüte mit dem Müll mit, die ich auf meinem Rollkoffer abgelegt habe. Das Brotpapier und die Müsli-Riegelverpackung und die Zeitungsseiten und die leere Wasserflasche verteilen sich auf dem Gleisbett. Ich blicke mich um, aber da ist niemand mehr, vor dem ich für meinen Müll Rechenschaft ablegen muss. Die Handvoll Menschen, die mit mir ausgestiegen ist, ist längst weg. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln brauche ich laut Navigation eine Stunde und elf Minuten zur Pension. Ich glaube ihr nicht. Auf der anderen Seite, hinter Gleis 3, wo ist Gleis 2, meine ich, eine Bushaltestelle zu erkennen. Ich trage meinen Rollkoffer, halb gefüllt mit Büchern, die Treppe zur Fußgängerbrücke hinauf und auf der anderen Seite der Gleise wieder hinunter. An der Bushaltestelle sitzen zwei Migra-Kids und hören über ihre Handys Musik, die klingt wie ein akustischer Flummi. Ich suche nach den Fahrplänen, finde jedoch nur einen, die nach vier Blatt großen Aushang für eine Linie, für die 1330. Aus der 30 hat jemand mit Edding eine 12 gemacht, und aus der 12 hat jemand eine 18 gemacht. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Bus nur einmal stündlich fährt und wenn er pünktlich war, habe ich ihn gerade verpasst. Ist der um 16.05 schon weg? Ja, antworten die Jungs im Chor. Ich frage mich, weshalb sie dann hier herumsitzen, aber noch mehr frage ich mich, was ich jetzt tun soll. Warten oder zu Fuß gehen?« auf dem ich meinen Rollkoffer hinter mir herziehe. Im Sekundentakt fahren Autos an mir vorbei, Auto nach Auto nach Auto, alle fahren in dieselbe Richtung und fast immer sitzt darin eine Person allein. Manche drehen sich nach mir um, halb zumindest, fragen sich, was mit mir nicht stimmt, dass ich zu Fuß gehen muss, kein Auto besitze. Der Sprühregen sickert allmählich durch meine Kleidung. Mehr und mehr spüre ich das Gewicht meines Mantels und die Kälte, die von unten an mir raufkriecht. Hoffentlich werde ich morgen nicht krank sein. Mit einem schweren Kopf werde ich Nassim nicht helfen können. Um Gedichte zu übersetzen, braucht man einen leichten Kopf, vor allem, wenn von den übersetzten Gedichten so viel abhängt. Angeschlagen würde ich ihm sicher nicht helfen können, noch weniger als vermutlich ohnehin schon. Und mit jedem Auto, das mich überholt, je länger ich gehe, desto unsinniger erscheint mir das alles, dass niemand anhält, um mich mitzunehmen, dass man so lebt, dass ich hier bin. Also Roshi, das ist auch das erste Kapitel des Romans, kommt nach Lasserem, diesem Ort in Emsland, um einem Flüchtling aus Afghanistan zu helfen. Er ist Lyriker, sagt er, wobei es auch ein bisschen eine Behauptung ist. Und er hofft, ich weiß nicht, ob das eine Idealisierung ist der Behörden in Deutschland oder wahrheitsgetreu, er hofft, wenn seine Gedichte übersetzt werden, hat er eine größere Chance, einen Aufenthaltsstatus zu bekommen. Nun erinnert, wie gesagt, diese Autorin doch an dich selber, an deine Biografie. Es gibt auch so einen kleinen formalen Hinweis. Diese Roshi-Kapitel sind in der Ich-Form geschrieben. Also ich ging dorthin, die anderen Kapitel in der sogenannten Er-Form. Also er ging dorthin. Das heißt, da ist irgendwie mehr Nähe natürlich nochmal dran. Du bist in Teheran geboren, bist dann im Alter von vier Jahren nach der Revolution im Iran mit deinen Eltern nach Deutschland gekommen, auch geflohen. Also hast du auch eine Fluchtgeschichte, wenn man so möchte. Wenn man so möchte. Ich möchte trotzdem nochmal fragen, bist dann eben in Köln gewesen, nach Graz gekommen, hast viele Preise bekommen. Wir haben es gehört, den Bachmann-Preis 2021, den österreichischen Buchpreis in der Kategorie Debüt für 16 Wörter. Also hast du sozusagen so eine migrantische Erfolgsgeschichte, wenn man so möchte, hinter dir. War es dir doch ein Bedürfnis, so ein, ja, vielleicht doch literarisches alter Ego auch in diesem Roman zu verewigen? in dem Roman zu verewigen. Ich mochte eher, also es war nötig, dass jemand kommt, um Nassim zu helfen, die Geschichte zu übersetzen. Und ich mochte, dass jemand von außen kommt und Roshi will ja erst nicht, weil sie muss sich dringend auf ihren neuen Roman konzentrieren und kommt widerwillig. Und ganz unerwarteter Weise stößt sie dann dort quasi auf ihren neuen Roman. Und das mochte ich irgendwie auch, weil ich habe als Schriftstellerin auch manchmal den Konflikt, dass ich angesichts der weltpolitischen Lage mich am liebsten zurückziehen würde und denke, ich ziehe mich zurück und konzentriere mich nur noch auf meine Romane. Aber das ist natürlich auch ein Trugschluss. Also man kann sich als Schriftstellerin nicht von der Welt zurückziehen und trotzdem einen relevanten Roman schreiben. Aber das ist so ein bisschen dieser Konflikt, den sie hat, dieses Verhältnis zu schreiben und an der Weltlage teilnehmen, den hat sie in gewisser Weise auch, den habe ich ihr quasi von mir geliehen, übergestülpt. Und ich mochte dann, dass sie ausgerechnet, weil sie sich dann dazu doch überreden lässt, Nassim zu helfen, dass sie dann dadurch quasi endlich ihren Stoff für den nächsten Roman findet. Und es ist ja auch oft so, als Künstlerin findet man ja seine Inspiration oft dort, wo man es gerade nicht erwartet. Genau, also sie bekommt dann Wind davon, dass dieser Nassim, der übrigens auch sehbehindert ist, eine Affäre hat oder ein Verhältnis unterhält mit Justina, einer aus Polen stammenden Altenpflegerin, die 20 Jahre älter ist. Und diese Geschichte beginnt sie irgendwie zu interessieren. Jetzt stelle ich kurz eine ketzerische Frage oder eine kontroverse Frage. Dieses Figurenensemble wirkt ja ein bisschen so wie aus dem Diversitätsseminar. Ein bisschen so wie aus dem Diversitätsseminar. Also jeder Diversitätsbeauftragte im Verlag freut sich wahrscheinlich an 1+. Es ist der afghanische Flüchtling dabei. Sehbehindert ist er ja auch noch. Genau, mit Behinderung. Diese Behinderung spielt dann auch noch eine Rolle, aber wir wollen nicht zu viel verraten. Es ist die polnische Altenpflegerin. Es ist eben die Fließbandarbeiterin dabei, die auch Alleinerzieherin ist. Und dann sozusagen auf der anderen Seite die Macht des Bösen, die Prozesseoptimierer und Manager. gehört, sozusagen in der Zusammenfassung könnte man sagen, das ist ein bisschen am Reißbrett entworfen und könnte plakativ werden. Wie wichtig war es dir denn, dass diese Figuren nicht nur sozusagen eine Position in der gesellschaftlichen Matrix repräsentieren, sondern einfach leben und auch psychologisch ausgeleuchtet werden und wie hast du dich in doch so sehr verschiedene Lebenssituationen, die ja jetzt eben nicht immer deine sind, überhaupt hineinversetzen können? Also mir ist es generell extrem wichtig, dass die Figuren ihrer Selbstwillen existieren. Also natürlich, das was du jetzt so aufgezählt hast, das stimmt total, aber ich habe mir nie gedacht, und jetzt muss ich noch das Thema Sexismus reinbringen oder jetzt muss ich noch das Thema Behinderung oder Rassismus oder, also ich habe das überhaupt nicht, ich gehe da überhaupt nicht von Themen ran, aber es war mir halt schon ein Anliegen, Menschen zu beschreiben, die einfach alle in gewisser Weise unter Druck stehen. Und der Manager steht ja auch sehr unter Druck. Also es ist ja nicht so, dass man denkt, oh ja, der hat ein schönes Leben, sondern er tut einem ja in gewisser Weise auch leid, weil eigentlich leiden alle unter diesem spätkapitalistischen System, in dem es nur noch darum geht, Gewinn und Effizienz und so. Also alle ja gleichermaßen. Anna ja in gewisser Weise auch. Sie tut ja auch Sachen. Also Anna ist die Ingenieurin, die eben die Kamera entwickelt. Sie tut ja auch Sachen, die sie eigentlich nicht tun will. Also und denkt immer nach diesem Projekt. Endlich hat sie ihr Standing. Und das war mir eben auch wichtig, dass die Figuren in sich auch ambivalent sind. Also die alleinerziehende Mutter Sonja ist ja jetzt nicht nur bemitleidenswert. Sie hat ja auch Seiten, die vielleicht nicht so sympathisch sind, genauso wie Nassim, der geflüchtete Afghane. Aber dadurch, dass sie hoffentlich alle eine individuelle Stimme kriegen, entfernen sie sich ja davon, irgendwie so Thementräger zu sein. Und um jetzt nochmal auf Nassim, den afghanischen Flüchtling, zu sprechen, zu kommen, das sind ja in den Medien sind das, und das merke ich bei mir selbst auch, gerade der Afghane, von dem gibt es ja ein totales Zerrbild in den Medien. Also das ist nur noch der bedrohliche, dunkelhaarige Mann. Und natürlich sind Dinge vorgefallen, keine Frage, aber diese Gruppe von Menschen hat eigentlich gar keine Individualität mehr. Und das war mir halt schon irgendwie wichtig auch, er hätte ja auch Iraner sein können, aber irgendwie habe ich ihn dann doch zum Afghanen gemacht, dass man eben doch jeden immer wieder auch als Individuum sieht. Und ich hoffe, das ist mir gelungen, also dass sie jetzt nicht nur ihre quasi ihre Minderheit repräsentieren, sondern wirklich individuell werden und auch gleichermaßen sympathische Züge wie unsympathische haben. Ja, es ist ja auch ein bisschen so, dass meine Assoziation wie in einem Episodenfilm, die sind zunächst einmal relativ disparat. Die Figuren, was sie eben zusammenhält, ist diese örtliche Komponente, also Lasserem. Und dann am Ende finden sie aber über sehr eigenartige Wege zueinander, in eben einem grotesken Gruppenbild. Das ist wie bei Robert Oldman, wo plötzlich der eine mit dem anderen was zu tun hat und man weiß gar nicht, wie das dazu kommt. Das heißt, ich schlage vor, wir lernen die nächste Figur kennen, Sonja. Das ist die Fließbandarbeiterin und Alleinerzieherin, die aber in die Verwaltungsabteilung wechseln will. Genau. Also genau, wie Christine schon meinte, das spielt in einem Tag und wir begleiten die Figuren alle so von morgens, teilweise direkt nach dem Aufstehen bis in den frühen Abend hinein. Wir sind noch recht am Morgen. Guten Morgen, Hase, steh auf und hol Leonie, wir frühstücken, sagte sie zu ihrem Sohn, der auf den Küchenfliesen saß und die Mähne seines Plüschlöwen kämmte. Luca ließ Kamm und Löwen fallen, rannte los und öffnete die Tür zu Leonies Zimmer. Sogleich fluteten die Geräusche des Videospiels die Wohnung. Frühstück ist fertig, schrie Luca gegen den Lärm an. Sonja war aufgestanden, hatte die Couch zusammengeklappt und war direkt ins Bad gegangen. Sie hatte ignoriert und ignorierte jetzt weiter, dass die Große sich offenbar den Wecker gestellt hatte, um vor Schulbeginn heimlich zu zocken. Ausgerechnet das Spiel, glaubte sie herauszuhören, dass sie ihr verboten hatte, weil Leonie zu jung dafür war. Heute konzentrierte sie sich auf das Bewerbungsgespräch, morgen auf Leonie. Steht schon alles auf dem Tisch, hörte sie diese aus ihrem Zimmer rufen. Sonja ignorierte das ebenfalls und drehte stattdessen das Radio lauter. Sie steckte zwei Scheiben Brot in die Schlitze des Toasters und lauschte auf, als die Worte afghanischer Lyriker fielen. Natürlich, Afghanen, die Gedichte schrieben,igen Familie berichtet, der Investoren suche, um eine neue Seifenproduktion im Emsland aufzubauen. Sechs Kinder, wie machten die das nur? Sie nahm eine Tasse aus dem Schrank, löffelte Instantkaffee hinein und übergoss diesen mit heißem Wasser. Zwei Kinder reichten ihr komplett, mehr würde sie nie im Leben schaffen. Und gab es eigentlich kein anderes Thema mehr als Flüchtlinge? Einerseits hatte sie es satt. Andererseits wollte sie wissen, was einem afghanischen Lyriker in dieser Gegend passieren konnte. Sie drehte das Radio lauter. Der Moderator nannte den Namen des Flüchtlings, doch das, was Sonja davon verstand, vergaß sie gleich wieder. Der Lyriker sei sehbehindert, so der Moderator weiter, er lebe seit einem Jahr in Deutschland, seit einem halben Jahr in Lasseren und gehe vormittags regelmäßig mit dem Blindenstock eine Runde spazieren, so auch gestern Vormittag. Doch gestern? Der Toast sprang hoch. Sie legte je eine Scheibe auf die Akzent sagen. Wenn er wirklich erst seit einem Jahr hier war, sprach er ziemlich gut Deutsch. In kurzen Sätzen, als hätte er sie sich vorher zurechtgelegt, aber fast fehlerfrei, erzählte er nun, wie er an der Kreuzung Nanzener Straße und Bundesstraße gestanden sei und gerade habe losgehen wollen, als ihm etwas den Stock aus der Hand gerissen habe. Sonja kannte diese Stelle. Genau dort hatte sie Leonie einmal gewaltsam die Beere einer Eibe aus dem Mund pulen müssen. Leonie hatte sie einfach nicht ausspucken wollen und sich mit Händen und Füßen gewehrt. Ein Fußgänger war stehen geblieben und sogar die Autos waren langsamer gefahren und alle hatten sie misstrauisch beohäckt. Ich habe das Fahrrad ganz kurz gesehen, dann war der Blindenstock weg, aus der Hand gerissen. Mit viel Gewalt, sagte der Afghane. Er wirkte betroffen. Sonja verstand nicht, wieso brauchte er einen Blindenstock, wenn er das alles sehen konnte. Sonja verstand nicht, wieso brauchte er einen Blindenstock, wenn er das alles sehen konnte. Ich habe dem Fahrrad hinterher geguckt, dann war es schon sehr weit weg, sehr weit weg. Da wusste ich, der Fahrer wird nicht anhalten, er ist weitergefahren. Luca versuchte, die kalte Butter auf dem warmen Toast zu verteilen und flüsterte die Flüche, die er bei seiner großen Schwester aufgeschnappt hatte. Aus seinem Mund klangen sie fast niedlich. Seufzend ließ er das Messer fallen. Wo ist die Wurst? fragte er. Im Kühlschrank. Lukas sprang auf. Kühlschranktür erst anheben, dann zudrücken, sagte Sonja mechanisch. Wir in der Redaktion sind schockiert über die Rücksichtslosigkeit des Fahrers oder der Fahrerin. Und offenbar war die Person auch viel zu schnell unterwegs am Fußgängerübergang, sagte der Moderator. Fahrerin? Es musste ein Mann gewesen sein. Sonja konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau so eiskalt weiterfuhr. Leonie kam aus ihrem Zimmer und ohne den Blick vom Handy zu heben, griff sie in die Packung mit der Fleischwurst. Sie steckte sich mehrere zusammengerollte Scheiben in den Mund und beschwerte sich kauend, kannst du mal normale Fleischwurst kaufen oder sind wir Moslems? Schwein könnt ihr bei der Uroma haben, sagte sie und behielt für sich, dass der Geruch der Hähnchenfleischwurst auch bei ihr neuerdings leichte Übelkeit verursachte. Rasch nahm sie einen Schluck Kaffee. Setz dich bitte ordentlich hin und gib mir dein Handy. Sie streckte Leonie die Hand entgegen. Leonie reagierte nicht. Gib mir dein Handy. Leonie reagierte weiterhin nicht. Gib mir dein Handy. Leonie reagierte weiterhin nicht. Sonja lehnte sich über den Tisch und zerrte ihr das Handy aus der Hand. Dabei warf sie ihre fast volle Kaffeetasse um. Leonie lachte schrill auf, schlug sich jedoch sofort auf den Mund, als bereue sie es. Der Kaffee bildete einen See auf dem weißen Küchentisch, während im Radio jetzt eine jüngere Frau sprach, die sicher aus der Gegend stammte. Ich habe die Szene von der anderen Straßenseite aus beobachtet und bin dann gleich zu ihm rübergerannt, sagte sie etwas kurzatmig, als sei sie noch immer aus der Puste. Sie habe dem Fahrradfahrer hinterhergerufen, aber die Person habe Kopfhörer getragen und sei stur weitergefahren. Sie glaube, es sei eine Frau gewesen, fügte sie etwas ungläubig an. Die Augenzeuge entschloss mit der Bemerkung, unglaublich, wie rücksichtslos die Menschen geworden sind. Das stimmte, es stimmte total. Ensonja stieg besorgnis auf, ein ungreifbares Unwohlsein, das sich für einen Augenblick in ihr ausbreitete wie der Kaffee auf dem Tisch. Verdammt, hör gefälligst auf zu lachen und hol was zum Aufwischen, schrie sie Leonie nun zeitverzögert an. Leonie machte keine Anstalten aufzustehen, stattdessen sah sie dem Kaffee dabei zu, wie er über die Tischkante ran und auf den Boden tropfte. Sonja fixierte ihre Tochter. Wir sprechen uns noch. Ab morgen werden hier andere Seiten aufgezogen. Sie stand auf, riss mehrere Blätter Küchenroller ab, kontrollierte routinemäßig, ob Luca die Kühlschranktür richtig geschlossen hatte, hatte er, und saugte mit dem Knoll den Kaffee auf. Der Moderator wies auf eine Spendenaktion von Möllring für einen neuen Blindenstock hin. Außerdem erzählte er etwas von einem Gedichtband, den der Afghane bald gemeinsam mit einer deutsch-iranischen Schriftstellerin veröffentlichen werde, deren Name Sonja ebenfalls sogleich vergaß. veröffentlichen werde, der Name Sonja ebenfalls zugleich vergaß. Es folgte Musik, Tina Turner, What's Love Got To Do With It. Sonja drehte das Radio leiser, setzte sich wieder und klopfte mit den Fingernägeln rhythmisch auf die leere Kaffeetasse. Klar, dass der Möllring sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, seine Frömmigkeit unter Beweis zu stellen. Stattdessen sollte er dem Afghanen lieber einen Job anbieten und irgendjemand sollte den Afghanen und generell alle Flüchtlinge dazu verpflichten, ihn anzunehmen. Wieso konnte er auf Kosten des Staates spazieren gehen und Gedichte schreiben, die eh niemand las? Er könnte prima in der Zerlegung arbeiten, so wie sie. Ja, wieso nicht? Ein Blinder oder Halbblinder oder was auch immer er war, wäre ideal für ihren Job. Blinde konnten besonders gut tasten, hieß es, oder nicht? Vermutlich viel besser als sie. Wieso bloß kam niemand auf die Idee? Sie ließ das Display von Leonies Handy aufleuchten. Jetzt war sie schon so lange wach und doch wieder spät dran. Sie rief nach Luca und Leonie, die sich unbemerkt vom Tisch entfernt hatten. Keiner von beiden antwortete. Ins Bad, ihr beiden sofort, schrie sie und stellte erst dann fest, dass Luca bereits dort war und sich die Zähne putzte. Mit großen Augen sah er sie an. Sie ging weiter zum Kinderzimmer, wo Leonie an ihrem Schreibtisch stand und in aller Seelenruhe einen Haufen Zettel zu einem Stapel zusammenschob oder zählte oder etwas in der Art. Sie blieb in der Tür stehen. Du musst los und du hast noch nicht einmal Zähne geputzt. Du schreibst halt eine Mathearbeit, verdammt. Leonie reagierte nicht. Sie hob nicht einmal den Kopf. Sonja ging auf sie zu und griff nach ihrem Oberarm. Leonie wimmelte sie ab wie eine Stubenfliege, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Fick dich. Hatte sie richtig gehört? Was hast du gesagt? Leonie hantierte weiter mit den Zetteln herum. Antworte mir gefälligst. Wieder keine Reaktion. Sonja hatte genug. Sie riss ihr die Zettel aus der Hand und schmiss sie auf den Boden. Leonie bückte sich, um sie aufzusammeln. Fick dich. Wie bitte? Sie packte Leonie am Oberarm, zerrte sie hoch und bohrte ihr mit ihrer ganzen Wut und mit voller Absicht ihr wehzutun die Fingernägel ins Fleisch. Leonie wiederum antwortete mit einer Kraft, die sie nicht kannte. Sie schüttelte Sonjas Hand ab und trat ihr einmal heftig auf den Fuß. Sonja wich zurück, erschrocken und für einen Moment lang offensichtlich machtlos. Doch das durfte nicht sein. Leonie, guck mich an, sagte Sonja sehr eisern. So, stellte sie sich vor, klang Autorität. Und tatsächlich, Leonie guckte sie an. Sie sah ihr direkt und so hasserfüllt ins Gesicht, dass Sonja wünschte, sie hätte ihr das lieber doch nicht befohlen. Erst jetzt spürte sie den Schmerz im rechten Fuß. Fick dich, sagte Leonie nun eindeutig. Sonja gab ihr eine Ohrfeige. Stille breitete sich aus und Sonja vergaß kurz, in welcher Beziehung sie zu diesem Menschen stand. Sie musste erst sich selbst und diese Szene zurechtrücken, damit ihr wieder einfiel, es war ihr Kind, das sich gerade die Wange hielt und die Spuren betrachtete, die ihre Fingernägel auf dem Oberarm hinterlassen hatten. Vier dunkelviolette Halbmonde. auf dem Oberarm hinterlassen hatten. Vier dunkelviolette Halbmonde. Wie die Storchenbisse, die Leonie bei ihrer Geburt übersät hatten, im Gesicht und sogar in den Armen. Da musste der Storch wohl mehrmals zupacken, hatte die Hebamme gescherzt und ihr Leonie auf die Brust gelegt. Ein kleines, rosa Bündel, vermeintlich unschuldig, hilflos und bereit, Liebe zu empfangen. Aber selbst der Storch war offenbar nicht mit ihm fertig geworden. Und es war auch nicht dazu bereit, etwas zu empfangen, dafür war es viel zu gierig. Es forderte alles ein, jetzt und sofort. Sonja kam mit Milch und Liebe kaum hinterher. Dabei war sie voller guter Absichten ins Muttersein gestartet. Die zeige ich dem Schularzt und dann kommt das Jugendamt, schrie Leonie. Sonjas Brustkorb hob und senkte sich schwer, ihr Herz darin drohte zu explodieren. Was war das nur für eine besonders perfide Art von Monster, das sie selbst geschaffen hatte. Sie rannte aus dem Zimmer, zog den Schlüssel aus dem Schloss, steckte ihn von der anderen Seite wieder hinein und drehte ihn zweimal um. Leonie rüttelte an der Klinke. Spinnst du? Lass mich raus, sofort, ich schreibe gleich eine Mathearbeit. Sonja trat einen Meter zurück und erstarrte. Leonie trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. Sie besaß so viel Kraft, dass der Schlüssel bei jedem Hieb beinahe aus dem Schloss fiel. Was sollte sie als nächstes tun? Wenn sie die Tür jetzt öffnete, würde sie das Tier bändigen können? Leonie schien abzulassen, jedenfalls wurde es plötzlich still. Aus dem Zimmer drang kein Laut mehr. Sonja trat näher heran, näher, ganz nah, und legte ein Ohr an die Spanholzplatte. Ein jähes Poltern durchriss die Stille, die Tür bebte in den Angeln und krachte gegen ihre Ohrmuschel. Sonja wich zurück, in ihrem Ohr erklang ein Piepton. Leonie trat ein weiteres Mal dagegen, wieder mit voller Wucht, sie legte es offensichtlich darauf an, das Holz zu zerschmettern. Sonja sah nun alles klar. Sie hatte gar keine andere Wahl gehabt, als ihre Tochter einzusperren. Geh ruhig zum Jugendamt, sagte sie laut und mit fester Stimme. Dein Vater will dich sowieso nicht, niemand will dich. Du bist ein Kotzbrocken und nur ich alleine auf der Welt halte dich länger als einen einzigen Tag aus, weil ich allein dich 24 Stunden lang aus mir herausgepresst habe und ich alleine auf der Welt dafür verantwortlich bin, dass ich dich da nicht wieder hineinkriege. Sie war überzeugt davon, das in diesem Moment aussprechen zu müssen. Stille. Sonja atmete flach, lauschte. Der Piepton in ihrem Ohr hielt an. Mama? Mama? Leonie musste jetzt direkt hinter der Tür stehen. Sie hörte sie sogar atmen. Wann hatte Sonja ihre Tochter das letzte Mal auf diese Weise Mama sagen hören? So bedürftig. Sie spürte, wie etwas in ihr sofort darauf reagierte und die Nervenbahnen in ihrem rechten Bein den Impuls erhielten, einen Schritt Richtung Kinderzimmertür zu setzen, aber nein, nein, nein, sie widerstand. Leonie klopfte gegen die Tür. Mama? Mama? Es klang weinerlich. Bitte mach auf, ich muss in die Schule, du verstehst das nicht, aber ich muss in die Schule, bitte, sonst bin ich tot. Ich muss in die Schule, du verstehst das nicht, aber ich muss in die Schule, bitte, sonst bin ich tot. Sonjas Nackenmuskulatur verkrampfte, ihre Schultern zogen sich zusammen. Sie durfte jetzt nicht schwach werden. Sie war an diesem Punkt immer schwach geworden und Leonie hatte das immer ausgenutzt, gnadenlos und bis zum Letzten. Deshalb kam es genau an diesem Punkt darauf an, hart zu bleiben. Ja, also Sonja sperrt ihre eigene Tochter in der Früh ein, bevor sie zurück ans Fließband geht bei Möllring, um Wooden Breasts händisch auszusortieren. Das sind eben diese Verhärtungen bei Hühnern, die in der Massentierhaltung verstärkt auftreten. Vielleicht ein Akt der Revolte, so würden es manche Tierrechtsphilosophen lesen. Ich möchte jetzt, bevor wir zum Manager kommen, als letzte Figur, von der wir mehr erfahren werden, kurz einen Bogen schlagen. Du hast ja 2021 den Bachmann-Preis verliehen bekommen. Das war der Corona-Jahrgang. Sie erinnern sich vielleicht, die Jury war vor Ort im Landesstudio Kärnten. Die AutorInnen waren nur per Videoschalte zugeschaltet. Das sagt vielleicht etwas über die Bedeutung aus, wer hier die echten Stars sind. Nava Ibrahimi wurde eingeladen von Klaus Kastberger, der auch immer wieder hier ist im Literaturschiff als Gast und hat eben diesen Preis bekommen. Und in diesem Jahr, das war sozusagen auch eine Art Wiedergutmachung, um einmal nach Klagenfurt auch physisch real zu kommen und an den Wörtersee, hat sie die Rede gehalten, die immer zum Auftakt dieses Wettlesens von einem Autor, einer Autorin gehalten wird. als Träger 2025 Nava Ibrahimi. Drei Tage im Mai hieß der Text und es war ein sehr, sehr politischer Text. Du beziehst dich dabei auf die Kapitalismuskritikerin Naomi Klein und den Begriff Endzeitfaschismus. Und ich habe über deinen Roman und auch über diese Rede mit mehreren Kritikerinnen gesprochen. Und viele haben gesagt, es sei eigentlich diese Rede, die du ja gehalten hast, bevor der Roman erschienen ist, der ist Ende August erschienen, würde eigentlich untermauern oder eine Art Meta-Ebene darstellen zu dem, was du da deiner Zählerisch vorgelegt hast, wo es ja auch um Ausbeutungsverhältnisse, um die Ökonomie des Spätkapitalismus und so weiter geht. Ich weiß nicht, ob du diese These befürwortest, aber erklär uns doch mal, warum Naomi Klein für dich ein Ausgangspunkt war für diese Rede, ob das vielleicht etwas mit dem Roman zu tun hat und was denn mit dem viel zitierten Endzeitfaschismus eigentlich gemeint ist. Also Naomi Klein und ihre Thesen waren jetzt für den Roman nicht, also die kannte ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht. Aber es ist so ein Grundgefühl, was ich eben beschrieben habe mit jetzt muss jeder sehen, wo er bleibt, ich eben beschrieben habe mit, jetzt muss jeder sehen, wo er bleibt, das ich schon früher hatte und das im Grunde Naomi Klein mit ihrem Endzeit-Faschismus auch unterstreicht. Also Naomi Klein beschreibt eben, dass diese neuen autoritären Bewegungen, also die typischen Namen, ich bin schon fast, ich habe schon richtig überdrüssig, diese Namen auszusprechen, also Trump, Musk und all diese und auch ganz viele andere Milliardäre, dass die sich im Grunde, also jetzt ein bisschen enger auf den Klimawandel, zum Beispiel den Klimawandel leugnen und aber eigentlich und ihn quasi weiter befeuern, auch durch ihre Politik, weil sie wieder auf Öl und veraltete Technologien, Verbrennermotor und veraltete Technologien setzen, anstatt eben in nachhaltige Technologien weiterhin zu investieren. Also diese Männer, das sind hauptsächlich Männer, diese reichen Männer überall auf der Welt, also es ist ja nicht nur Amerika, wir sehen das in anderen Ländern auch, unternehmen nichts gegen den Klimawandel, leugnen ihn größtenteils sogar, aber hintenrum sichern sie sich ihre kleinen Refugien, also Zufluchtsorte, für den Fall, dass hier alles den Bach runtergeht. Also das bekannteste, absurdeste Beispiel, oder nicht absurdeste, aber das vielleicht am weitesten vorausschauende ist natürlich Musk mit seinem Leben auf dem Mars, was er irgendwie da so ein bisschen, oder nicht ein bisschen, was er massiv vorantreibt. Aber eben auch so Leute wie Peter Thiel und Musk und Trump. Und die haben überall, kaufen die sich ihre Grundstücke zusammen. Also zum Beispiel auch Mark Zuckerberg hat ja auf Hawaii fast so ein ganzes Areal gekauft. Also man sieht jedenfalls daran, dass die sich sehr wohl vorbereiten auf so eine Art Apokalypse, dass eben die Meeresspiegel ansteigen, dass das Wetter einfach komplett verrückt spielt, dass es große, große Flüchtlingsstrom ergebenpse, dass eben die Meeresspiegel ansteigen, dass das Wetter einfach komplett verrückt spielt, dass es große, große Flüchtlingsströme geben wird, dass es größere, vielleicht auch noch brutalere Verteilungskämpfe geben wird. Auf all das richten die sich nachweislich, kann man fast sagen, ein. Also Mark Zuckerberg hat zum Beispiel auf Hawaii so ein Areal ein bisschen erhöht, damit es vom erhöhten Meeresspiegel geschützt ist, mit einem unterirdischen System, mit Stahltüren und eigener Wasserquelle. Also man kann so richtig sehen, dass sie sich da schön drauf vorbereiten. Und dann haben sie auch ihre Freedom Cities. Also gerade jetzt unter Trump entstehen so Städte oder sollen so Städte in Zukunft entstehen, wo die Politik keinen Einfluss drauf hat, wo sich einfach ganz reiche Menschen einkaufen können und quasi geschützt von allem quasi der Katastrophe zusehend. Und so einzelne Mosaiksteinchen hatte ich, bevor ich Naomi Klein's Essay gelesen habe, schon. Aber sie macht das halt in ihrem Essay, stellt das nochmal richtig gut zusammen und auch die Philosophie, oder was heißt Philosophie, aber diese Haltung, ist ja keine Philosophie, aber diese Haltung dem Leben und uns der Menschheit gegenüber, also dieses wirklich, jeder muss schauen, wo er bleibt, das Recht des Stärkeren, also alles, was wir jetzt auch in der internationalen Politik und auch auf nationaler Ebene, also solidarisches Denken und Handeln ist quasi, hat es irgendwie schwer gerade. Handeln hat es irgendwie schwer gerade. Arme Menschen, Bürgergeldempfänger werden quasi für alle Probleme verantwortlich gemacht, was auch absurd ist eigentlich letztes Mal, jeder muss sehen, wo er bleibt. Also das Gegenmodell zum solidarischen Denken und Handeln eigentlich wird halt gerade massiv propagiert. Ein bisschen, also ohne das jetzt so ausformuliert zu haben, ist der Roman Also Frauensolidarität zu leben und so, das schafft keine der Figuren. Aber im Grunde wünschen sich ja alle Verbundenheit und Gemeinschaft oder gute Beziehungen. Und mit dem Schluss habe ich das vielleicht so ein bisschen, das Ende ist für mich so ganz bisschen eine kleine Möglichkeit für die Utopie zumindest, dass wir auch anders handeln könnten, wenn wir uns einfach wirklich mal selbst hinterfragen würden, massiv. Genau, das spoilern wir aber nicht, weil es wird ja spannendzufassen, der historische Faschismus hatte irgendwie doch eine sozusagen politische Utopie im Gepäck. Also die Vorstellung, dass es ein gutes, idealtypisches Leben für zum Beispiel die Volksgemeinschaft gibt. Nur alle, die eben nicht dazugehören, also das andere muss vorher ausgelöscht werden. Also das andere muss vorher ausgelöscht werden. Und diese Endzeit-Faschisten, die über Privatvermögen verfügen, die ja sozusagen das Bruttoinlandsprodukt ganzer Nationalökonomien übersteigen, die haben gar nicht mehr die Idee, dass es den Wenigen oder den Weißen besser geht in der Zukunft, sondern es geht darum, dass es ihnen besser geht und dann bauen sie Kolonien am Mars oder träumen davon oder träumen wie Peter Thiel, der PayPal-Investor von der Unsterblichkeit. Also da gibt es ganz viele Forschungen. Zur Zellerneuerung werden Milliarden tatsächlich hineingepumpt, aber es geht also auch um die Gesundheit. Während eben die Gesundheitsversorgung für die Mehrheit quasi immer mehr zusammenschrumpft. Und sozusagen der traditionelle Faschismus hätte noch die Idee gehabt, dass es den Deutschen und den Italienern besser geht. Die anderen sozusagen müssen dafür geopfert und ermordet werden. Aber diese Idee gibt es gar nicht mehr, sagt Naomi Klein. So, wir lernen jetzt den Manager in diesem Roman kennen. Wir lernen jetzt den Manager in diesem Roman kennen. Der bäckt deutlich kleinere Brötchen als Elon Musk und Peter Thiel und Mark Zuckerberg. Er ist eben zuständig für Prozessoptimierung. Das große Projekt der Stunde Nona. Die KI soll die Fließbandarbeit ablösen und diese Wooden Press sollen automatisch erkannt werden mit Kameras. Es gibt aber auch gewisse Friktionen und es läuft nicht so. Bitteschön. Genau. Also die Seiwert, von der jetzt gleich die Rede ist, das ist eben Anna, das ist die, die extern kommt und diese KI-Kamera installieren soll. Und es läuft nicht so super. Also mehr Chaosen steht auch unter Druck. Gleichzeitig hat er amoröse Bestrebungen. Er hatte die Seiwert in der Zerlegung abgeliefert und war auf dem Weg zurück ins Büro. Dabei blickte er mehrmals auf sein Handy. Nichts. Keine Nachricht von Justina. Und gleich das Meeting mit dem Alten und seinem Hundesöhnchen, das sich nur zu bellen traute, wenn es auf dem Schoß seines Herrchens saß und währenddessen gekrault wurde. Heute würde sich Gabriel sicher die Seele aus dem Leib kläffen, nachdem Merkhausen Bericht vom Testbetrieb erstattet hatte. Dann fiel ihm zu allem Überfluss ein, dass die Seibert am Morgen vielleicht etwas von seinem Telefonat mit Lünnemann mitbekommen haben könnte. Egal, selbst wenn, es war nur ein harmloses Geplänkel, so lief das halt in stressigen Zeiten, da musste sie durch, sonst hätte sie halt Kindergärtnerin werden sollen. Aber die Seibert war eh ein harter Knochen. Und außerdem, er war der Kunde und sie musste liefern. Er hatte also gar keinen Grund, sich den Kopf zu zerbrechen. Es konnte ihm völlig egal sein, was sie von ihm hielt. Das sagte er sich seit dem Abendessen, an dem sie die Vertragsunterzeichnung gefeiert hatten, regelmäßig. Er klappte den Laptop auf und wollte seine Aufmerksamkeit gerade auf die Zahlen in der Excel-Tabelle richten, als sein Handy vibrierte. Eine Sprachnachricht von einer fremden Nummer mit einem an einem kahlen Zweig hängenden Apfel als Profilbild. Hastig klickte er die Nachricht an. Mehrere Sekunden Stille, dann... Hier ist Justina. Sogleich schoss ihm das Blut in die Adern. Ich finde die Stimme wichtig. Schick mir eine Sprachnachricht. Das war's. Ende der Nachricht. Kein Danke, kein Bitte, kein Wort zu viel. Diese Frau kam zum Punkt. Ein wenig verstörte es ihn schon, doch das war wohl eher die Gewohnheit, die Konvention. Er vertraute lieber seiner Intuition, die ihm sagte, dass sie nicht unangenehm herrisch war. Im Gegenteil, er fand ihre Direktheit auf seltsame Weise verletzlich, sexy geradezu. Und er mochte ihre Stimme, sie war für eine Frau eher tiefer, aber weich. Und er liebte diesen Akzent einfach. Sie sprach fast fehlerfrei, aber versuchte nicht, ihre Herkunft zu vertuschen. Es schien ein wenig, sie sei stolz auf ihre Sprachfärbung, sie kostete sie förmlich aus. Allein wie sie das Haar am Wortanfang klangvoll hauchte, stellte ihm die Haare auf den Unterarm auf. Merkhausen räusperte sich, was sollte er jetzt antworten und wie? Sein Hochdeutsch erschien ihm im Gegensatz zu ihrer Melodie richtiggehend plump. Er hielt sich das Telefon vor den Mund und drückte die Aufnahmetaste. Er räusperte sich ein weiteres Mal. Ja, hallo, hier spricht Peter, Peter Merkhausen. Das ist also meine Stimme. Er machte eine Pause. Was sollte er jetzt sagen? Ich hoffe, sie gefällt dir. Pause. Deine Stimme gefällt mir jedenfalls sehr gut. Sie erinnert mich an meine Großmutter, an Babcia. Aber das ist eine längere Geschichte. Kann ich ja mal bei Gelegenheit... Pause. Also ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du heute Abend Zeit für ein Glas Wein hättest. Pause. Wenn du hungrig bist, können wir selbstverständlich essen gehen. Es ist nur so, dass ich das Essen Montagabend ausfallen lasse für die Linie, weißt du? Obwohl ich nicht dick bin oder so, aber man achtet ja auf sich. Er deutete ein Lachen an. Also kein Problem, wir können uns trotzdem in einem Restaurant verabreden. Pause. Oder wir trinken heute Wein und gehen morgen essen, also falls der heutige Abend gut läuft. Dienstagabend darf ich ja essen. Also auf jeden Fall würde ich dich wahnsinnig gerne heute treffen. Heute Abend könnte ich früher Schluss machen. Also mit dem Job. Sonst arbeite ich meistens länger. Also nicht falsch verstehen, ich bin kein Workaholic oder so. Ich trage allerdings viel Verantwortung. Und im Betrieb ist gerade einiges los. Aber heute könnte ich mich früher frei machen. Frei schaufeln meine ich. Pause. Es sollte jetzt lieber aufhören. Also dann, tschüss. Und weg war die Nachricht. Mist. Er hatte nicht bedacht, dass man sie nicht vorher noch einmal abspielen und zur Not neu aufnehmen konnte. Was hatte er da nur für ein Blödsinn geredet? Er hatte nach 23 Jahren Ehe wohl vergessen, wie man mit einer Frau sprach. Er hörte sich die Nachricht an. Seine Stimme klang nicht gut, sie klang herausgepresst. Er hätte einmal tief durchatmen sollen. Und, oh nein, er schlug die Hände vors Gesicht, erinnert mich an meine Großmutter. Was war nur in ihn gefahren? Er hatte ihr von seinen polnischen Wurzeln erzählen wollen, um klarzumachen, dass er auf dieser Plattform nicht nach einer finanziell abhängigen, unterlegenen und ergebenen Osteuropäerin suchte, sondern nach Reminiscenzen an seine Kindheit. Aber war das viel besser? Wenn du hungrig bist, sie kam doch nicht frisch aus Biafra. Was für ein Quatsch. Falls der heutige Abend gut läuft, gut laufen, gut laufen, das ließ eindeutig zu viel Interpretationsspielraum, sie konnte das leicht missverstehen. Sollte er die Nachricht rasch löschen? Sollte er? Das war ebenso verräterisch, oder? Zu spät. Die Häkchen färbten sich blau, sie hatte sie bereits abgespielt. Sie hielt ihn vermutlich nun für einen Trottel, bestimmt brach sie den Kontakt augenblicklich ab. Sie hielt ihn vermutlich nun für einen Trottel, bestimmt brach sie den Kontakt augenblicklich ab. Jetzt, wo er wusste, dass er sie bereits gehört hatte, musste er sie sich mit diesem Wissen gleich noch einmal anhören. Oh nein, freimachen, er hatte freimachen gesagt. Es klopfte an der Tür, wieder steckte Gabriel seinen Kopf herein. Merkhausen stoppte hektisch, die Aufnahme verdrückte sich jedoch erst, sodass Gabriel noch sein verlegenes »Also dann, tschüss« mit anhören durfte. Gabriel lächelte vielsagend. »Kommst du, wir warten schon.« Merkhausen blickte auf die Uhr. Er hatte die Zeit übersehen. Er ließ das Handy in die Tasche seines Jacketts gleiten und suchte unter Gabriels Blicken die Unterlagen auf dem Schreibtisch zusammen. Gabriel ging auf dem Gang voraus Richtung Sitzungszimmer. Merkhausen folgte ihm und betrachtete dabei emotionslos die Falte in dessen frisch ausrasiertem Nacken. Wie gerne träfe er heute Abend Justina. Justina ist die Altenpflegerin, die mit dem afghanischen Flüchtling Nassim ein Verhältnis unterhält. Warum er? Die beiden lernen sich kennen auf der Plattform polnischdeutsche-liebe.de oder so. Deutschpolnische. Und das ist ein weiterer Hinweis, eine Fährte, die in diesem Roman auch noch sehr interessant ist. Es gab nämlich in diesem Emsland und das ist historisch verbirgt, eine polnische Enklave, das ist so eine Fußnote der Nachkriegsgeschichte, die kaum jemand kennt. Bevor wir zum geselligen Teil des Abends übergehen, vielleicht noch kurz, kannst du uns erzählen, wie du überhaupt dazu gekommen bist, diese wirklich unglaubliche Geschichte zu recherchieren? zu recherchieren? Ja, da bin ich auch durch Zufall drauf gestoßen. Also ich war ja, es fing ja so ein bisschen mit den Hühnern an und dann habe ich geguckt, also in Österreich gibt es ja auch Betriebe, also Hühnerschlachtbetriebe, aber bei weitem nicht so große wie in Deutschland, wie Niedersachsen. Also in Deutschland sind sie hauptsächlich in Niedersachsen und da vor allem im Emsland. Also ich bin ja in Deutschland aufgewachsen und ich kenne einige Regionen Deutschlands, aber das Emsland ist wirklich so ein unbeschriebenes Blatt irgendwie. Also es gibt ja auch keinen Roman, keinen Film. Und das ist in Nordwestdeutschland. Ah ja, genau. Das sollten wir vielleicht mal lokalisieren. Genau, das ist westlich, südwestlich von Osnabrück an der holländischen Grenze. Genau. Und es war auch für mich irgendwie so ein blinder Fleck. Ich war noch nie dort gewesen und fand das aber wieder reizvoll als Herausforderung, als quasi deutsch-iranische Autorin den ersten emsländischen Provinzroman zu schreiben. Und dachte halt auch, dass es wahrscheinlich die langweiligste Gegend Deutschlands ist. Aber wie es so ist, wenn man anfängt zu recherchieren, ist ja jede Region interessant oder man fördert irgendwas Interessantes in jeder Gegend zutage. Und da war das sogar was sehr Interessantes, was auch wirklich selbst in Deutschland relativ unbekannt ist. ist, was auch wirklich selbst in Deutschland relativ unbekannt ist. Also das Emsland, die Nazis hatten relativ früh Emslandlager, also Strafgefangenen und Kriegsgefangenenlager im Emsland eingerichtet, weil das Emsland ist eigentlich eine sehr, war eine eher schwache, also sehr katholisch, aber sehr schwach entwickelte Region. Es ist halt alles Moorlandschaft oder viel Moorlandschaft. Und die Kriegsgefangenen wurden halt früher dafür eingesetzt, die Moore zu kultivieren, also Torf abzutragen. Deswegen gab es sehr viele Lager und da waren sehr viele auch Kriegsgefangene aus Polen, also vor allem auch Kämpfer vom Warschauer Aufstand. Und eben auch am Warschauer Aufstand waren ja auch sehr viele junge Frauen beteiligt. 1.700 polnische weibliche Kriegsgefangene, was auch sehr außergewöhnlich ist. Aber nicht zu verwechseln mit dem Aufstand im Ghetto. Ja, genau. Das ist nicht der Aufstand im Warschauer Ghetto. Also der Warschauer Aufstand war ein Aufstand der Polinnen und Polen gegen die Nazi-Besatzung. Das war im August 1944. Aber auf jeden Fall haben die Nazis den dann aber doch niedergeschlagen und eben sehr viele junge Menschen waren daran beteiligt, eben in diese Emslandlager gebracht und vor allen Dingen auch viele Frauen. Also es gab ja eine polnische Exilregierung in London und die hatten auch eine polnische Panzerdivision und sehr viele Kriegsgefangene, auch viele Strafgefangene, also einfach, es war dann plötzlich nach Kriegsende waren an die 200.000 polnische Displaced Persons im Amstrad, also Polinnen und Polen, die auch nicht zurück nach Polen gehen wollten, weil eben klar ist, dass sich jetzt da der Stalinismus breit macht. gehen wollten, weil eben klar ist, dass sich jetzt da der Stalinismus breitmacht. Und die Alliierten, die Briten, die dort das Sagen hatten, wussten eben nicht wohin. Und dann haben sie, weil sie den Polinnen natürlich auch ein besseres, also die wollten ihn natürlich auch besser unterbringen und ihnen irgendwie was bieten. Und dann haben sie eben eine Kleinstadt, die eben auch Vorbild für meine Kleinstadt ist, Haren an der Ems, ein Ort mit ungefähr 5000 Einwohnerinnen, haben sie dann wirklich quasi über Nacht, also direkt nach Kriegsende, haben sie die EinwohnerInnen aufgefordert, ihr Hab und Gut zu nehmen und rauszugehen, den Ort zu verlassen und dann sind dann 5000 Polinnen und Polen eingezogen und die Haarener durften den Ort auch dann für zwei, drei Jahre nicht betreten. Und Haaren wurde halt so Matschkopf. Also es war wirklich eine polnische Stadt mit einem polnischen Gymnasium. Es gab Massenhochzeiten, Partys, polnisches Theater. Also es war wohl wirklich, also Zeit zu ergehen sagen, so eine Art paradiesischer Zustand für zwei Jahre. Und dann war das aber klar auch, weil Stalin das gar nicht gefallen hat, dass das leider nicht auf Dauer sein wird. Und dann sind viele nach Übersee emigriert. Das war aber auch dann nicht mehr so leicht. Und einige sind dann quasi hängen geblieben im Emsland. Und als dann die Deutschen wieder die Verantwortung für die alliierten Gebiete bekommen haben, waren das als heimatloser Ausländer in einer Region zu sein, die natürlich dann auch, die Menschen hatten dann auch natürlich starke Abneigung gegen die Polinnen und Polen, weil sich dann die Haharener als Opfer gesehen haben. Also das fand ich auch interessant, diese Täter-Opfer-Umkehr. Ja, auf jeden Fall eine ganz interessante Geschichte, die auch wirklich sehr wenig bekannt ist. Genau, also eine polnische Enklave, aber nicht an der deutsch-polnischen Grenze, sondern ganz im Westen, Nordwesten. Auch der Titel dieses Romans und Federn überall bezieht sich eigentlich auf diese historische Tangente, die auch konstruiert und aufgemacht wird. Wir verraten das aber jetzt nicht. Dafür müssen Sie das Buch lesen. Also betreten Sie gemeinsam mit Nava Ebrahimi Terra Incognita. Das ist der erste Roman, der im Emsland spielt. Und ich glaube, man kann auch sagen, der erste Roman, der in einem Geflügelschlachthof spielt. Mir ist keiner bekannt. Falls Sie Besseres wissen, dann korrigieren Sie mich gerne. Vielen Dank, Nawa Ibrahimi. Für die Lesung. Sie können den Roman natürlich auch hier erwerben. Die Autorin wird gerne signieren. Und noch eine letzte Information. Nawa Ibrahimi hat es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft mit diesem Roman. Gratuliere! Thank you.