Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte Sie sehr herzlich zur heutigen Veranstaltung begrüßen. Wir sind sehr glücklich, dass die Präsentation von Margit Schreiners neuem Buch Vater, Mutter, Kind – Kriegserklärungen über das Private erschienen bei Schöffling & Co. heute stattfinden kann. Sie musste ja leider zweimal verschoben werden. Heute ist es aber wirklich soweit und wir freuen uns sehr, dass Margit Schreiner heute zu uns gekommen ist und aus dem neuen Buch lesen wird. Herzlich willkommen! Besonders begrüßen möchte ich auch die Literaturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin Dr. Christa Gürtler. Sie setzt sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Werk Margit Schreiners auseinander. 2008 hat sie das Rampe-Porträt über Margit Schreiner herausgegeben. Ebenfalls herzlich willkommen. Margit Schreiner stellt ihrem neuen Buch einen Ausschnitt aus den Bekenntnissen des heiligen Augustinus voran. In dem heißt es unter anderem über die weiten Hallen des Gedächtnisses, Zitat, dort begegne ich auch mir selbst und erlebe es noch einmal, was und wann und wo mein Tun gewesen und was ich bei diesem Tun empfunden. Dort ist alles, wessen ich mich entsinne, sei es von mir selbst erlebt oder dass ich es von anderen erfahren habe. Aus derselben Masse hervor verknüpfte ich mir selber auch immer neue Bilder erlebter oder dem Fremden Erlebnis, weil es meinem eigenen entsprach, geglaubter Dinge mit Vergangenen zu einem Gefüge. Schon Augustinus war sich also an der Wende des vierten auf das das 5. Jahrhundert bewusst, dass, wie Margit Schreiner es formuliert, Realität, und sei es nur die einer Sekunde, nur in der Erinnerung, alsoisch sind, Zitat, je weiter sie zurückliegen, desto häufiger verändern sie sich im Laufe des Lebens, verlieren oder gewinnen Bedeutung, so gesehen ist jede Erinnerung eine Erfindung, Zitat, Ende. Voraussetzungen, also wendet sich Margit Schreiner dem Privaten, wie es im Titel heißt, zu, der sehr oft tabubeladenen Erinnerung an Kindheit und an die Kernfamilie Vater, Mutter, Kind. Was Kindheit mit Kriegserklärungen zu tun hat, werden wir in den kommenden ungefähr 75 Minuten erfahren. Ich wünsche uns einen anregenden Abend und übergebe das Wort an die beiden. Bitte. Ja, schönen guten Abend. Auch ich und wir freuen uns, dass es endlich soweit ist mit der Buchpräsentation von Margit Schreiner's neuem Buch. Vielen herzlichen Dank, Regina Pinter, auch für die Begrüßung und Einleitung, die uns ja schon mitten sozusagen ins Thema führt. ins Thema führt. Ich möchte Ihnen ein bisschen etwas eben zum Schreiben von Margit Schreiner sagen und wir werden auch vor der Lesung noch miteinander ins Gespräch kommen. Dann gibt es eine längere Lesung, dann gibt es wieder ein Gespräch und zum Schluss wird Margit Schreiner dann noch einmal lesen. Seit ihrem Debüt im Jahr 1989 mit dem Erzählband Die Rosen des heiligen Benedikt bekennt sich Margit Schreiner dazu, dass ihre eigene Lebensgeschichte Ausgangspunkt ihres Schreibens ist und dieses Augustinus-Zitat bekräftigt ja noch einmal auch die Schwierigkeiten, die sich sozusagen dieses Schreiben stellt. Gleichzeitig spielt Margit Schreiner sehr, sehr gerne auch mit der möglichen Verwechslung von Kunst und Leben. Im schon erwähnten Porträtheft der Rampe im Jahr 2008 hat Margit Schreiner ihre persönlichen Fotos in ihrem biografischen Abriss mit Textausschnitten aus ihren Büchern kombiniert und hat sie mit wenigen konkreten biografischen tatsächlichen Daten ihres Lebens versehen. Und sie hat dieser Zusammenstellung den selbstironischen Titel 99% erfunden, 99% wahrgegeben. Ich finde, das charakterisiert wunderbar die Poetik von Margit Schreiner. charakterisiert wunderbar die Poetik von Margit Schreiner. Ich glaube, das siebte Lebensjahr des Menschen wird gnadenlos unterschätzt. Mit dieser Ansage beginnt der Roman Vater, Mutter, Kind, Kriegserklärungen, in dem die unverkennbare Stimme Margit Schreiners, geboren 1953, die Erinnerungen an den Lebensabschnitt eröffnet, in dem der, wie es im Buch heißt, Ernst des Lebens beginnt. Das nachkolorierte Schwarz-Weiß-Foto auf dem Umschlag, Sie sehen es hier auch, zeigt sie als Mädchen mit Topffrisur, das im Jahr 1959 nur 16 Kilo wog. Die Autorin ist also überzeugt, dass nicht die Pubertät, sondern der Schuleintritt, das Ende der unbeschwerten Kindheit und den Beginn der Anpassung an Regeln und Normen markiert. der Anpassung an Regeln und Normen markiert. Konnte man vorher Nachmittage mit dem Zeichnen verbringen, musste man nun zum Nationalfeiertag die österreichische Fahne in rot-weiß-rot innerhalb vorgegebener Schablonen zeichnen. Ein rebellisches Mädchen erklärte also den Erwachsenen den Krieg. Für die Volksschülerin reihen sich Enttäuschungen, Demütigungen, Niederlagen und viele Peinlichkeiten aneinander. Ständig wird sie entmutigt statt ermutigt, bestraft statt gelobt. Sehr häufig konfrontieren die Erwachsenen ihre Kinder in den 1950er und 1960er Jahren, allerdings auch mit ganz anderen Kriegserfahrungen, die sie wiederum geprägt haben. Mit Sätzen wie, was uns nicht umbringt, macht uns nur härter, formulieren sie ihre Erziehungsmaximen. Dagegen muss sich das Mädchen wehren. Innerlich formulierte ich Wort für Wort meine Kriegserklärungen an alle Kassiererinnen, Eltern und Lehrer, heißt es im Buch. Margit Schreiner macht klar, eine Siebenjährige ist grundsätzlich im Kriegszustand, da heißt es raus ins feindliche Leben. Das ist also die Ausgangsposition am Beginn des Buches. Schon im Roman Hausfriedensbruch aus dem Jahr 2007 denkt eine Schriftstellerin darüber nach, wie sie über ihre eigene Kindheit schreiben soll. Du kannst dich nämlich hinsetzen und haargenau aufschreiben, was du wann erlebt hast. Es bleibt deine Erfindung. Über ein Jahrzehnt später gibt es nun das Ergebnis, könnte man sagen, dieses Nachdenkens. Du hast literarisch eine Form gefunden, Gegenwart, Schreibgegenwart und Kindheit zu verknüpfen. Du hast nämlich die Parallelen der Lebensabschnitte, Schuleintritt und Pensionsschock sozusagen zusammengeführt. Du behauptest, und das machst du sehr überzeugend, finde ich, dass das siebte Lebensjahrzehnt ebenso unterschätzt wird wie eben das siebte Lebensjahr eines Menschen, weil es ebenso schwierig ist, den Ernst des Lebens erst einmal kennenzulernen und ihn dann im siebten Lebensjahrzehnt wieder sozusagen zu lernen, dass man diesem Ernst des Lebens eben nicht mehr verpflichtet ist. diesem Ernst des Lebens eben nicht mehr verpflichtet ist. Genau das wird im Buch immer wieder sozusagen diese Klammer von Gegenwart und Vergangenheit geschlossen. Diese Klammer, die ich ganz großartig finde, ermöglicht dir ja dann auch, diesen Erinnerungs- und Schreibprozess im Buch immer wieder zu reflektieren, weil die Differenz zwischen dieser Kinderperspektive, die uns dann im Buch sehr, sehr oft natürlich auch seitenweise begleitet und die Erwachsenenperspektive immer wieder präsent bleibt. Also es wird immer wieder durchbrochen quasi diese Kinderperspektive und gesagt, wird immer wieder durchbrochen quasi diese Kinderperspektive und gesagt, halt, ich bin jetzt so alt und eigentlich sozusagen gibt es ganz viele Punkte, wo du da anknüpfen kannst. Meine Frage ist jetzt nun, war das so da vielleicht so das Entscheidende, als du diese Parallelen erfahren hast, erlebt hast, dass du dann gewusst hast, erfahren hast, erlebt hast, dass du dann gewusst hast, so kannst du jetzt über deine Kindheit noch einmal schreiben und sehr weit zurückgehen, wie vielleicht am Beginn deines Schreibens, aber in den letzten Büchern eigentlich nicht mehr. Da bist du eher immer weiter in die Gegenwart heraufgegangen, also war immer mehr erlebte Zeit und Schreibzeit vielleicht hat sich angenähert, finde ich. Oder war das von Beginn an klar oder hat sich das so entwickelt? Es hat sich entwickelt. Also das war mir, hört man das? Ich muss das Mikrofon. Es hat sich eigentlich entwickelt, obwohl, also ich bin am Anfang des Buches, habe ich gezweifelt, dass ich überhaupt, weil ich habe ja doch mein Leben lang autobiografisch geschrieben, dass ich überhaupt noch etwas zu erzählen habe. Und dann habe ich mir gedacht, komisch, also über diesen Blickwinkel von dem Untertitel über das Private, wie mein Verleger das gehört hat, hat er gesagt, das ist eine Schnapsidee, über das Private mittlerweile ist er begeistert, aber er hat gesagt, das ist doch bescheuert, über das Private zu schreiben. die Hauptherausforderung. Ich wollte nochmal über den Stellenwert und auch den gesellschaftlichen Stellenwert, aber ganz konkret des Privaten in den 50er, 60er, 70er, 80er Jahren, der sich ja ungeheuer verändert hat, schreiben. Also in den 50er Jahren war sozusagen alles privat. Also meine Eltern haben bis zu meinem 14. Lebensjahr nicht gesagt, wen sie wählen. Das ist ganz geheim und privat. Und es war auch privat, wenn in der Küche irgendwie der Kelomat explodiert ist, auf keinen Fall den Nachbarn sagen. Also das war alles privat. Dann in den 60er, späten 60er, 70er Jahren, die 68er Bewegung, wo es auf einmal geheißen hat, alles Private ist politisch. Das war natürlich genau der Zweck, das aufzudecken, was da heute mit den Social Media, wo Teenies ganz private Sachen einfach posten und sie gar nichts dabei denken. Also sie werden schon gewarnt, gut. Aber ich glaube, das hat sich also enorm geändert. Und das war mein Einstieg. Also dieser Plan, und es war eigentlich gleich ein Plan, mehrere Bücher zu machen, von den Behinderungen des Siebenjährigen zu den Behinderungen des Siebzigjährigen zu greifen. Da ist ein Aufschwung, da ist ein Niedergang, aber es hat etwas unheimlich Ähnliches. Das siebte und das siebte Lebensjahr, meiner Meinung nach. Jetzt habe ich ganz viel geredet. Du wolltest noch etwas fragen? Nein, ich wollte eben wissen, ob es quasi der Auslöser war, diese Parallelen, oder ob sich das entwickeln kann. Also der Auslöser, so wie du es jetzt dargestellt hast, ist eben nachzudenken über die Veränderungen dessen, was privat ist. Und da ist vielleicht schon eingeschlossen, diese Erwachsenenperspektive, weil ja die Veränderung gleich mitgedacht ist. Und von dem Standpunkt aus, also auf die 50er Jahre zu schauen, hat plötzlich so viel hervorgebracht, was ohne diesen Blick von heute und den Social Media und was da alles sich tut, ohne diesen Blick gar nicht hochkommen wäre in meiner Erinnerung. Ich finde, du hast zwar jetzt als Ausgangspunkt dich, also deine Person genommen und hast versucht eben dich zu erinnern an deine Kindheit. Entstanden ist aber auch aus dieser exemplarischen Geschichte, finde ich, so etwas wie das Porträt vielleicht einer Generation, einer Nachkriegsgeneration und auch so eine Mentalitätsgeschichte der 1950er und 1960er Jahre. Wenn man dieses Buch von dir liest, dann hängt es sicher sehr stark davon ab, wie alt man ist und welche sozusagen Erinnerungen man teilt oder wo man Vergleiche anstellt oder ob man, wenn man jünger ist, vielleicht auf Dinge stößt, die man überhaupt, die einen befremden oder die man gar nicht mehr kennt, weil es ja ganz viele Alltagsbeschreibungen gibt und ganz viele Dinge wie das Stollwerk zum Beispiel, an das sich alle erinnern, die älter sind und die wahrscheinlich die Jüngeren gar nicht wissen, was ist ein Stollwerk noch. Oder wenn du beschreibst, was eine Waschküche ist und wie dann die erste Waschmaschine gekommen ist. Das kann sich unsere Generation, ich nehme mich da jetzt einmal, ich bin nur ganz unwesentlich jünger als du, mit ein, dann können wir uns daran erinnern. Aber natürlich, jüngere Menschen können sich sicher an die Waschmaschine gar nicht erinnern. Und du schreibst an einer Stelle über die merkwürdige Zeit der 60er Jahre. Einerseits Verschwendungssucht bei Küchengeräten, andererseits Knausrigkeit bei den Gefühlen, besonders den Kindern gegenüber. Du hast jetzt zuerst schon davon auch erzählt, wie sich das verändert hat auch in den Jahrzehnten, aber ich habe mich gefragt, hast du auch viel recherchiert, hast du Gespräche geführt mit Freunden, mit Menschen deiner Generation, hast du da auch vieles sozusagen hineingespeist jetzt in dieses Buch oder hast du dich tatsächlich so gut an deine Geschichte erinnern können? die erste Waschmaschine, wann ist eigentlich der erste Computer? Ich weiß das auch nicht mehr. Jetzt muss ich sagen, ich habe ein ganz schlechtes, in meinem Kopf gibt es zwei Arbeiter. Der eine ist der Archivar und der andere ist der Mythologe. Und mein mythologisches Gedächtnis ist wahnsinnig ausgereift. Der Archivar ist verkümmert. war, ist verkümmert. Ich weiß nichts. Ich weiß gerade, wann ich geboren bin, aber sonst nichts. Wann genau die Schule und wann dann die... Also das ist mir alles ein Rätsel. Und darum bin ich auch der Meinung, also das ist alles so irreal, wenn jetzt jemand daherkommt und sagt mir, du bist gar nicht 53 geboren, sondern 55 muss ich sagen, ich war ja nicht dabei. Es ist alles, was angeblich so real ist, ist mir schon irreal. Und da, also wann die erste Waschmaschine, wann das erste Telefon ohne Dreieranschluss, sowas hat es ja auch gegeben. Viertelanschluss. Viertelanschluss. Also wann das alles war, das weiß ich alles nicht mehr. Ich weiß nur, dass es war. Also dass da ein Telefon hing und da hat man nie gewusst, geht das jetzt für einen, kommt dann der Nachbar oder, also sowas erinnere ich mir, aber nicht genau, wie das war. Das habe ich alles recherchiert, auch wie man gekleidet war oder was man in der Schule was wichtig war oder wie die Lehrer angezogen waren, das wusste ich nicht mehr so. Und das schaue ich dann ins Google, das ist ja so praktisch, dass man das heute hat. Da gibt es ja Bilder und da drücke ich auf Bilder und dann zeigen wir dir, wie man in den 50er Jahren angezogen war. Und aus diesen Bildern speist du dann wieder deinen mythischen Es muss halt passen, zu meinem mythischen Erleben. Und wenn das passt, dann verwende ich es. Ja, ich glaube, wir hören uns jetzt mal an, wie gut das in deinen Texten dann doch zusammenpasst. Ich fange einmal am Anfang an. Ich glaube, das siebte Lebensjahr des Menschen wird gnadenlos unterschätzt. Alle starren immer nur auf die Pubertät, aber die Pubertät beginnt im Grunde viel früher. So wie sich die Studentenrevolte von 1968 bereits ab 1959 abzeichnete. Es muss sich erst einmal vieles ansammeln, bis es dann explosionsartig austritt. Im siebten Lebensjahr werden die Kinder bei uns gemeinhin eingeschult. Damit beginnt eine neue Ära. Wer vorher unverletzbar war, wird auf einmal verletzbar. Wer stark war, dem wird schnell beigebracht, dass auch das Stärkste untergehen kann. Das Zeitalter des Vergleichens mit anderen beginnt, die Ungerechtigkeiten beginnen, die Willkür der Notengebung, die Vernichtung menschlichen Potenzials. Wer früher sorglose Nachmittage mit Zeichnen verbrachte oder zehnmal hintereinander versuchte, auf der Teppichstange im Hinterhof zu balancieren, der muss jetzt am Nationalfeiertag die österreichische Fahne zeichnen, jetzt am Nationalfeiertag die österreichische Fahne zeichnen und zwar in Rot-Weiß-Rot und innerhalb vorgegebener Schablonen und im Turnunterricht zur Trillerpfeife der Lehrerin im Kreis laufen. Man nennt das den Ernst des Lebens. 1959 rückte Che Guevara mit seinen Revolutionstruppen in Havanna ein und Fidel Castro übernahm die Macht. Im selben Jahr fand in Tibet der Aufstand gegen die Chinesen Mao Zedongs statt, der Dalai Lama floh nach Indien. Die zweite Phase des Vietnamkriegs begann. Ende des Jahres 1958 erwarb die deutsche Luftwaffe 300 Starfighter, erwarb die deutsche Luftwaffe 300 Starfighter, von denen in den folgenden Jahrzehnten aufgrund technischer Gebrechen 260 abstürzten, wobei 116 Piloten starben. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 1959 die Deklaration über die Rechte des Kindes, die Anti-Baby-Pille wurde zur Genehmigung eingereicht, die Barbie-Puppe wurde erstmals auf der Toy Fair in New York vorgestellt, der Dichter Salvatore Quasimodo erhielt den Nobelpreis und ich erlebte meine erste persönliche Geldentwertung. Ich war gerade in der ersten Klasse Volksschule, wog nur 16 Kilo, hatte eine Topf-Frisur nach dem Ausfall meiner Milchzähne Zahnlücken und es gab noch den Schilling als Währung. Einen Schilling hielt ich fest in der Hand und machte mich damit auf zum Gemischtwarenhändler Kolczak in der Eisenbergstraße. Schon Ende der 60er Jahre mit dem Bau des Einkaufszentrums Muldenstraße sollte sein winziges Geschäft verschwinden. Ich ging den gepflasterten Gehweg neben dem Fösthäuserblock entlang. Über die damals noch kaum befahrene Eisenbergstraße, eine Seitengasse der Muldenstraße, an der die damals verstaatlichten Vereinigten Österreichischen Eisen- und Stahlwerke, vormals Hermann Göring-Werke, für ihre Arbeiter und Angestellten sowie andere verstaatlichte Unternehmen auch sozialerschwingliche Wohnungen errichtet hatten. Mein Weg führte durch den kleinen Park mit der prächtigen Teichanlage aus großen flachen Natursteinen, Steinplatten, über denen die Äste einer Trauerweide herabhingen. Im letzten Sommer hatte mein Cousin Nils aus dem Ruhrgebiet und ich von dort Kaulquappen in ein Marmeladeglas abgefüllt, um in unserer Badewanne ihre Froschwerdung zu beobachten. Jetzt im Winter war das Wasser aus dem Teich ausgelassen, sodass nur ein klägliches steinernes Loch überblieb. Ich hatte mir in der Nacht zuvor ausgerechnet, für einen Schilling 100 Stollwerkzuckerl zu bekommen. Ich weiß nicht, ob es Stollwerk heute überhaupt noch gibt. Sie schmeckten süß-sauer, meist mit künstlichem Fruchtgeschmack und hatten eine gummiartige Konsistenz, lösten sich aber im Gegensatz zu Kaugummi nach langem Lutschen im Mund auf. Wenn man das Lutschen verkürzen wollte und das Stollwerk zerbiss, blieb das zerbissene Stollwerk noch lange zwischen und auf den Zähnen kleben. Die Vorfreude beschleunigte meine Schritte. Während ich am Fleischhauer noch vorbeigegangen war, lief ich ab der Tabak-Trafik, die ebenfalls mit dem Bau des Einkaufszentrums Muldenstraße verschwinden sollte, zu Kolczak. In kürzester Zeit würde ich mit einem prall gefüllten Einkaufsnetz mit Stollwerken nach Hause zurückstolzieren. Auf dem Rückweg würden alle Kinder aus der Siedlung Neidisch auf mein Einkaufsnetz schauen, durch dessen Maschen sich die in Grellbund des Papier eingewickelten Süßigkeiten geradezu hinauszudrängen versuchen würden. Ich war sehr glücklich. Sonst ging ich nicht so gerne zu Kolczak einkaufen. Bei Kolczak muffelte es. Eine Mischung aus faulem Obst, Mottenkugeln und Bohnenwachs. Das Geschäft bestand aus einem schmalen, schlauchartigen Raum. Ganz hinten stand die Theke, an der Wurst und Käse verkauft wurden. Es war dunkel, sodass den ganzen Tag Licht brennen musste. Die Theke war hoch und ich musste zur Verkäuferin hinauf sprechen, wollte ich etwas bestellen. Die Verkäuferin überragte mich um meine Körperlänge. Ich befand mich auf Augenhöhe mit den Würsten hinter den dicken Glasscheiben. Die Würste waren angekraut und hatten dunkle Ränder. Mein Cousin Nils hatte einmal behauptet, die Verkäuferin sei eine Frau ohne Unterleib und bewege sich deshalb auf Stelzen fort. Jedenfalls verstand sie mich nie, wenn ich den Einkaufszettel, den mir meine Mutter mitgegeben hatte, zu ihr hinauf vorlas. Meistens musste ich ihn zwei- oder dreimal hintereinander vorlesen. Und als ob das alleine nicht ausgereicht hätte, kam noch die Kassiererin Bekolczak hinzu. Sie war sehr dick, hatte rote Haare und nahm sich, ohne zu fragen, die Groschen aus meiner Geldbörse. Sie behandelte mich wie ein Kleinkind, das nicht selbst bezahlen konnte. Als ich an jenem Tag im Jahr 1959 vor der Kasse bei Kolczak stand, neben der die großen Gläser mit den im buntes Papier eingewickelten Stollwerkzuckern aufgebaut waren und meinen Schilling auf die Ablage vor der Kasse legte und 100 Stollwerk orderte, lachte die dicke Kassiererin laut auf. 100 Stollwerk willst du für einen Schilling? fragte sie. Ein Stollwerk kostet 10 Groschen. Wie viele Stollwerk kriegst du dann für einen Schilling? 100, antwortete ich sofort. Wie viele Groschen hat ein Schilling? fragte die Kassiererin, die mir immer schon unsympathisch gewesen war. »100«, antwortete ich trotzdem noch einmal. »Ja«, sagte die die Dicke, »zehnmal.« »Du bekommst zehn Stollwerk für einen Schilling.« Damit langte sie in eines der Stollwerkläser und zählte mir zehn Stollwerk auf die Ablage. Gleichzeitig warf sie meinen Schilling in die Kasse. »Da«, sagte sie, »und jetzt geh heim und übe fleißig rechnen. Eine Demütigung sondergleichen. Steckte die zehn Stollwerke in meine Manteltasche und ging langsam durch den Park zurück. Am ausgelassenen Teich setzte ich mich auf eine der kalten Steinplatten. Die Äste der Trauerweide kitzelten mich im Nacken. Sämtliche Niederlagen meines Lebens fielen mir ein. In der Religionsstunde hatte ich nicht gewagt, während des Morgengebetes aufs Klo zu gehen, sodass sich schließlich eine Lache zu meinen Füßen bildete. Alle Kinder zeigten auf mich. Ich stritt alles ab. Die Lache, sagte ich, sei schon vorher da gewesen. Mein Cousin Nils hatte mir zu Ostern einmal rohe Eier ins Bett gelegt, um zu sehen, ob ich imstande war, sie auszubrüten. Meine Mutter hatte damals lange über die Sauerei in meinem Bett geschimpft. Einmal, als Nils zu Weihnachten bei uns zu Besuch gewesen war, hatte ich ein Puppenkarussell geschenkt bekommen, das mein Vater selbst im Keller gebastelt hatte. Wenn man einen Knopf drückte, erklang Musik aus der Standsäule und die Sitze, die an Kettchen vom Dach des Karussells herabhingen, drehten sich. Das Dach des Karussells war feuerrot. Während meine Eltern in der Mitternachtsmette waren, zerlegte Nils das Karussell in seine Bestandteile, um herauszufinden, wie es funktionierte. Mein Vater hat es nie mehr so zusammenbauen können, dass es sich drehte und Musik zu hören war. Die Kassiererin war ein böses Weib. Was wäre denn dabei gewesen, wenn sie mir 100 Stollwerke gegeben hätte? Kolczak hatte genug Stollwerk auf Lager und der Kassiererin gehörten die Zuckerl ja nicht persönlich. Eine großzügigere Person hätte sie mir, selbst wenn ich mich nur einmal angenommen, wirklich verrechnet hätte, einfach trotzdem ausgehändigt. Fast hätte mir, hatte mich getröstet, dass Basti mit den blonden Locken und den blauen Augen aus dem Nachbarhaus sich vor einiger Zeit ebenfalls verkalkuliert hatte. Während ich mich höchst wahrscheinlich nur verrechnet hatte, hatte er sogar die falsche Währung erwischt. Als er am Bahnhofsschalter eine Fahrkarte mit Steinen bezahlen wollte, wurde er gefasst und zur Bahnhofsmission gebracht. Von dort wurden seine Eltern verständigt. Wir alle aus der Siedlung haben gesehen, wie Basti von seinen Eltern heimgebracht worden ist. Er trotete wie ein Schwerverbrecher zwischen seinem Vater und seiner Mutter her. Unter jedem Auge war ein weißes Rinnsaal in seinem total verdreckten schwarzen Gesicht. Das schwarze Gesicht hatte Basti möglicherweise von dem Versuch, bei den Kohleausträgern der Föst unterzukommen, die an dem Tag Koks geliefert hatten. Oder er hatte sich für die Flucht tarnen wollen oder er hatte es einfach satt gehabt, mit bleichem Teu, blonden Locken, blauen Augen und einem Kirschmund durch die Gegend zu laufen und sämtliche Menschen um sich herum zu entzücken. Aber dann fiel mir ein, dass Basti ja fast zwei Jahre jünger war als ich, also praktisch noch ein Baby. Und kein Baby kann eine Siebenjährige trösten. Mein Hauptproblem damals war, ich hatte weder einen besten Freund noch eine beste Freundin bei uns im Hinterhof. Basti kam wegen seines Alters als Freund nicht in Frage. Hans Brandlmüller, der in der Wohnung unter Basti wohnte, war mir zu wild. Theo vom übernächsten Haus regte sich bei Auseinandersetzungen so auf, dass er Schaum vor dem Mund bekam und sich auf der Wiese wälzte. Frank und Sungard kamen so gut wie nie in den Hinterhof spielen. Außerdem war mir Frank zu dick und Sungard zu jung. Sie war sogar noch ein bisschen jünger als Basti. Markus von der anderen Hofseite war drei Jahre älter als ich und kam deshalb ebenfalls nicht in Frage. Etta vom Haus gegenüber interessierte sich hauptsächlich für Markus. Ilse, die neben Markus wohnte, übte den ganzen Tag nur Handstände und Saltus im Hinterhof und ihre Schwester Emma, die in meinem Alter war und am ehesten als beste Freundin in Frage gekommen wäre, war bereits mit Susi befreundet. Die beiden spielten meist alleine Vater und Mutter, wobei Susi, die immer der Vater war, sich ein zusammengeknülltes Taschentuch vorn in die Hose stopfte. Gut, ich hatte Sonja, die Tochter unseres Hausarztes, in der Eisenbergstraße zur Freundin, aber die wurde von ihrer Mutter derart behütet, dass sie nicht bei uns im Hof spielen durfte. Ich musste sie in ihrer Wohnung neben der Arztpraxis besuchen und da sah ja niemand aus unserem Hinterhof. Mit einer besten Freundin oder einem besten Freund wäre alles so einfach gewesen. Ich wäre nach der Schule in unseren Hinterhof gegangen und hätte gespielt. So aber wusste ich nicht, ob die anderen Kinder überhaupt mit mir spielen wollten. Ich stand also, besonders in den Sommerferien, oft stundenlang am Küchenfenster und wartete, dass jemand vom Hinterhof nach mir rief. Wenn die Kinder im Hof nach mir riefen, lief ich sofort hinunter und spielte mit ihnen. Riefen sie nicht, blieb ich stocksteif am Fenster stehen. Was besonders unangenehm war, wenn meine Mutter in der Küche Apfelkompott kochte, was sie oft tat. Zu allem Möglichen wurde damals Apfelkompott gegessen. Zu Kaiserschmarrn und Topfenknödel, aber auch zu gekochten Rindfleisch oder Kartoffelnudeln. Während meine Mutter die Wespen, die vom Apfelkompottgeruch angezogen wurden und in die Küche flogen, mit einem Schneidemessbrett verjagte, fragte sie von Zeit zu Zeit, warum gehst du denn nicht in den Hof spielen? Es war so peinlich. Aber meine Mutter merkte es nicht einmal. Dreimal, sagte sie immer, mit dem Schneidebrett auf den Wespenkopf geknallt und die Wespe kommt nicht wieder. Wenn mein Cousin Nils in den Ferien bei uns zu Besuch war, war das alles kein Problem. Ich ging mit ihm zusammen in den Hof. Bei Verwandten muss man sich nicht den Kopf zerbrechen. Ob sie mit einem spielen wollen oder nicht, Verwandte tun das einfach. Ich war auf der kalten Steinplatte vor dem ausgelassenen Teich sitzen, inzwischen überzeugt, dass niemand mich liebte. Alle waren schlecht und besonders die dicke, rothaarige Kassiererin vom Koltschak. Man hatte mich betrogen. Der Schilling war endgültig verloren. Aus Frustration aß ich alle zehn Stollwerk hintereinander auf. Es waren fünf Kaffee-Stollwerk, die ich nicht mochte, unter den zehn Frucht-Stollwerk. Kurz überlegte ich, ob ich zu Kolczak zurückgehen und sagen sollte, 100 Stollwerk bitte. Wenn Ihnen ein Schilling zur Bezahlung nicht genügt, dann schreiben Sie den Rest eben an. Meine Mutter bezahlt es später. Aber dann fiel mir ein, dass meine Tante Maria aus Essen, Mutter von meinem Cousin Nils und Frau eines Bruders meiner Mutter, in der ganzen Familie schräg angesehen wurde, weil sie beim Lebensmittelgeschäft in der Siedlung im Ruhrgebiet, in der sie lebten, anschreiben ließ. So etwas grenzte in den Augen der Familie meiner Mutter am Betrug. Die Tante Maria war überdies evangelisch, während die ganze Familie meiner Mutter katholisch war und in einer katholischen Siedlung wohnte. Ihr Bruder war eine Mischehe eingegangen, wie sie sich ausdrückte. Mein Vater, der auch katholisch war, aber nicht jeden Sonntag in die Kirche ging, war ebenfalls gegen Kredite. Deshalb haben meine Eltern auch das Angebot der Föst für junge Ehepaare, ein Reihenhaus mit Garten auf Kredit zu kaufen nicht angenommen, obwohl der größte Wunsch meiner Mutter immer gewesen ist, ein Reihenhaus mit Garten zu besitzen. Mein Vater hat mir davon einmal erzählt und noch Jahrzehnte später die Augenbrauen allein bei der Vorstellung einer Kreditaufnahme hochgezogen. Deine Mutter und ich haben nie Schulden gemacht, hat er zu mir gesagt. War es das, was mich in Zukunft erwartete? Ein Leben ohne Stollwerk, ohne Schulden und ohne Freunde, umgeben von dickleibigen, rothaarigen Kassiererinnen, die zu geizig waren, die von ihren im Lager gehorteten Stollwerk herauszurücken? die von ihren im Lager gehorteten Stollwerk herauszurücken. Im Krieg wären wir froh gewesen, wenn wir ein paar Kartoffeln gehabt hätten, hatte meine Mutter einmal gesagt, als ich den Kartoffelsalat, den sie immer mit viel zu viel Mayonnaise zubereitete, nicht essen wollte, weil mir davon schlecht wurde. Mir war Krieg aber eindeutig lieber als Kartoffelsalat mit zu viel Mayonnaise. Innerlich formulierte ich Wort für Wort meine Kriegserklärung an alle Kassiererinnen, Eltern und Lehrer. Wer sich auf dem Kriegsfahrt befindet, muss lernen, lautlos durch die Wohnung zu schleichen, feindliche Truppen zu belauschen, Kriegspläne auszuforschen, die eigenen körperlichen Kräfte zu stehlen. Ich kletterte auf den Ahornbaum im Hinterhof, um in die Küche der Frau Dunger zu spähen, ließ mich den Abhang zu unserem Haus hinunterrollen, um nicht selbst ausgekundschaftet zu werden? Übte auf der Teppichstange das Balancieren über reißende Flüsse und Schluchten oder versuchte aus dem Stand höher als einen Meter zu springen? Wenn ich heute über einen Baumstamm, der im Weg liegt, klettern möchte, riskiere ich einen Sturz und in der Folge womöglich einen Oberschenkelhalsbruch. Wer über 60 auf einen Baum steigt, hat einen triftigen Grund dafür und benutzt eine stabile Leiter. Das Balancieren ist bereits auf einem Brett von einem halben Meter Breite riskant, weil im Alter der Gleichgewichtssinn rapide abnimmt. Kurz das siebte Lebensjahrzehnt wird wie das siebte Lebensjahr weit unterschätzt. Was für Kinder ein Jahr ist, dehnt sich für den über 60-Jährigen zu einem Jahrzehnt, das ihm so schnell vergeht wie ein Jahr. Die Menschen, die an ihrem 60. Geburtstag alle mit ihrer Jugendlichkeit und ihrem Elan überraschen, sterben zwischen 60 und 70 reihenweise an Herzinfarkt, Gehirnschlag oder an Krebs. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Menschen, die in ihrem siebten Lebensjahr so mühsam den Ernst des Lebens lernen mussten, in ihrem siebten Lebensjahrzehnt in Pension gehen und auf einmal genauso mühsam lernen müssen, nicht mehr dem Ernst des Lebens verpflichtet zu sein. Das überleben viele nicht. Nils hatte als Baby Kinderlähmung. Das war damals, Anfang der 50er Jahre, nichts Ungewöhnliches. Die Schluckimpfung gab es noch nicht. Mein Onkel Otto hatte als Kind ebenfalls Kinderlähmung gehabt. Nils musste als Baby in einem Gipsbett liegen. Nils musste als Baby in einem Gipsbett liegen. Ich stelle mir oft vor, er sei während seines ersten Lebensjahres im Gitterbett eingegipst worden, ohne irgendeine Möglichkeit, sich zu bewegen. Kein Wunder, dass er später so zappelig war und alles zerlegte und dabei das meiste kaputt machte. Er hatte schließlich nachzuholen. Nils hatte einen gekrümmten Rücken und einen Klumpfuß, wie mein Onkel Otto, nur noch nicht so ausgeprägt. Die Ärzte haben ihm damals als Baby eine Lebenserwartung von höchstens 20 Jahren gegeben. Jahre alt und trägt eine Sauerstoffmaske. Zu Menschen, die ihn so zum ersten Mal sehen, sagt er, man hat mir meinen Starfighter geklaut. Als Kind nahm ich die Behinderung meines Cousins einfach so hin. Erst nachdem Theo aus dem Nachbarhaus einmal zu ihm Quasimodo gesagt hatte, fiel mir auf, dass Nils beim Gehen humpelte. Noch hatte ich keinen Körper, beziehungsweise ich hatte kein Gefühl für meinen Körper. Er funktionierte wie von selbst. Nur wenn jemand anderer etwas an meinem Körper hervorhob oder bemängelte, fiel es mir auf. Die Turnlehrerin hatte einmal gesagt, dass meine langen Beine zum Laufen bei Leichtathletik-Wettbewerben geeignet seien. Und Theo hatte beim Ballspielen gesagt, dass man sich an meinen spitzen Hüftknochen verletzen könne. Sobald meine Eltern spazieren gingen, stand ich jeweils lange nackt vor dem einzigen Ganzkörperspiegel der Wohnung im Schlafzimmer meiner Eltern und starrte meine Beine bzw. meine Hüftknochen an. Es war schwer verständlich, dass das, was ich im Spiegel sah, mein eigener Körper sein sollte. Heute geht es mir wieder so. Manchmal reicht ein versehentlicher Blick in eine Schaufensterscheibe und ich erschrecke. Soweit ich mich erinnere, tat mir der Körper bis zu meinem 13. Lebensjahr nie weh, außer ich hatte mich verletzt. Ab meinem 13. Lebensjahr allerdings brach alles auf mich ein. Ich hatte plötzlich und ohne Vorwarnung Bauchschmerzen, mir war schlecht, ich hatte Rücken- und Kopfweh und Gliederschmerzen. und Bauchschmerzen, mir war schlecht, ich hatte Rücken- und Kopfweh und Gliederschmerzen, jeder einzelne Knochen in meinem Körper tat mir weh. Das Schlimmste war aber diese unendliche Müdigkeit, die mich damals schlagartig überfiel und die im Grunde bis heute nicht ganz verschwunden ist. Ich konnte oft kaum aufrecht sitzen, so müde war ich. Am liebsten legte ich meinen Kopf auf die am Tisch verschränkten Arme und rührte mich nicht. Mein Vater sagte dann, sitz gerade und meine Mutter sagte, lass dich nicht so hängen. Woraus ich schloss, dass sie keine Ahnung von meinem Zustand hatten. Dabei kränkelten sie selbst ununterbrochen, besonders meine Mutter. Sie jammerte den ganzen Tag. Meistens hatte sie Ischias. Dann bekam sie, während ich mit Sonja spielte, eine Spritze von unserem Hausarzt. Oft hatte sie auch Nasenbluten, war erkältet und hustete oder hatte Schmerzen im Unterleib. Eine Zeit lang machte ich mir täglich Notizen über die vielen Beschwerden meiner Mutter. Die einzige Sorge, die ich mir mit sieben Jahren machte, war meinen älgeren Körper betreffend, waren die Angst vor langen Schamlippen und der Darmverschluss. Da ich in der Nacht oft an meinen Schamlippen herumzupfte und den Eindruck hatte, dass diese schlaffe Häutchen dabei ausleierte, hatte ich die Vorstellung, dass sie mir, wenn ich so weitermachte, eines Tages bis zum Knie hängen und somit irgendwann auffallen könnten. Beispielsweise meinen Eltern, wenn ich in der Badewanne saß und sie gerade ins Bad kamen oder dem Arzt, wenn er mich untersuchte. Ich versuchte deshalb nicht an meinen Schamlippen herum zu zupfen, aber wenn ich nicht gerade ausdrücklich daran dachte, zupfte ich doch wieder und meine Angst stieg in der Folge weiter. Das mit dem Darmverschluss war noch viel schlimmer. Jemand musste von einem Fall erzählt haben, bei dem der oder diejenige eine Darmverschlingung mit anschließendem Darmverschluss gehabt hatte, einen harten Bauch bekommen, sich vor Schmerzen stundenlang im Bett herumgewälzt hatte und schließlich ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Anscheinend ging es dabei um Leben und Tod. Meine Angst, dass mich ein ähnliches Schicksal ereilen könnte, hing damit zusammen, dass ich, wenn ich aufs Klo musste, oft nicht sofort aufs Klo ging, sondern so lange wartete, bis die Scheiße sich schon so weit aus meinem Hintern herausgedrückt hatte, dass ich augenblicklich in gekrümmter Haltung ein Klo aufsuchen musste. Scheißen sagte damals übrigens niemand. Das Wort existierte gar nicht. Man sagte, dass jemand aufs Klo müsse, klein oder groß müsse, kacken müsse, AA gehen, Klo müsse, klein oder groß müsse, kacken müsse, AA gehen, einen Haufen machen, Stuhlgang haben, später dann einen Neger abseilen. Der Zustand des Zurückhaltens war ein äußerst aufregender. Nicht nur äußerst angenehm, sondern auch äußerst riskant. Ein Zustand zwischen Erwartung, Versagen und Erlösung. Dieser Zustand kündigte sich langsam an. Wir hatten gerade Blutwurst mit Sauerkraut zu Mittag gegessen. Mein Vater war zurück zur Arbeit gegangen. Meine Mutter hatte sich wie immer nach dem Mittagessen auf das Sofa gelegt. Essen auf das Sofa gelegt. Ich saß auf meiner Couch im Kinderzimmer und spielte mit den Puppen, dass wir uns auf einer Bootsfahrt auf dem Amazonas befanden. Fremde Laute drangen aus dem Urwald, tellergroße violette Blüten schwammen neben unserem Boot und ich spürte, dass ich aufs Klo musste. Langsam und ganz ohne mein Zutun begann sich etwas durch meinen Darm zu schieben. Ein Kitzeln zuerst, eine Art vibrierender Darmwände. Das regte augenblicklich die Vorstellungskraft an. Papageien kreischten lauter und Krokodile ließen sich von der Strömung mit halb geöffnetem Maul an uns vorbeitreiben. Die Gefahr, dass einer von uns aufgefressen würde, sollte aus dem Boot in den Amazonas fallen, stieg. Aber auch die Intensität des Abenteuers. Indianer könnten sich hinter der grünen Mauer des Urwalds verbergen und mit ihren Pfeilen bereits auf uns zielen. Riesenschlangen könnten sich von den Zweigen und Ästen der Bäume am Ufer auf unser Boot gleiten lassen. Die Luft flirrte. Mit der Gewissheit, dass sich das Kitzeln in meinem Leib steigern würde, kamen Nilpferde zu den Krokodilen dazu. Flamingos standen am Amazonasufer auf einem Bein, aus dem Urwald drangen Urlaute. Ich blieb im Boot sitzen und begann, meine Muskeln zusammenzuziehen, was wiederum ein sehr angenehmes Gefühl auslöste. Jetzt nicht mehr kitzeln, sondern bereits jucken, aber nicht ein Jucken wie bei einem Mückenstich, sondern jucken wie bei einer gerade verheilten Wunde, von der man den Schorf abkratzt. Die Puppen saßen still im Boot und betrachteten den Dschungel, während ich von einer Hinterbacke auf die andere wechselte, um dem Drängen der bereits offenbar stattlichen Wurst in meinem Darm entgegenzuwirken. In dem Moment, in dem sie sich anschickte, aus der Darmöffnung zu treten, explodierte der Urwald. Affen brüllten, Pfeile schwirrten durch die verdichtete Luft, ein Gewitter kam, Blitze zuckten, der Urwald flackerte grün und rot und blau. Ich hatte keine Angst, sondern im Gegenteil die reine Abenteuerlust. Das Kitzeln war jetzt in meinen Kopf aufgestiegen, dort vibrierte die Gehirnhaut. Dieser wunderbare Zustand musste so lange wie möglich hinausgezögert werden. Die Wurst schob sich millimeterweise aus meinem Hintern heraus. Dieser wunderbare Zustand musste so lange wie möglich hinausgezögert werden. Die Wurst schob sich millimeterweise aus meinem Hintern heraus. Ich musste aufstehen, wenn ich nicht wollte, dass meine Unterhose schmutzig wurde. Ich legte also mit dem Boot an, befestigte es am dicken Ast einer Mangrove und befahl meinen Puppen sofort, das Boot zu verlassen. Bis zu den Knien im Amazonas stehend, das Gesicht gegen den Himmel gewandt, setzte ein warmer Regen ein, fiel auf unsere Gesichter und Haare. Wir rissen uns die Kleider vom Leib, standen reglos im Wasser, alle möglichen Pflanzen schlangen sich um unsere Beine. Der Druck stieg. Ich spürte, dass jeden Augenblick der Moment erreicht sein würde, in dem es kein Zurück mehr gab. Die Scheiße wollte aus meinem Leib. Ich wollte mein Amazonas-Abenteuer aber nicht beenden. Der Kampf spitzte sich zu. In dem Moment, in dem ein riesiges Krokodil auf meine Puppen und auf mich zugeschwommen kam, das Maul jetzt weit geöffnet, konnte ich nicht mehr. Ich überließ die Puppen mir am Schicksal und öffnete die Tür meines Zimmers. Wie immer nach einem kurzen Mittagsschlaf saß meine Mutter im Fernsehstuhl und löste Kreuzfahrträtsel. Ich wollte so unauffällig wie möglich an ihr vorbei, was aber unmöglich war. Sie sah mich sofort, nachdem ich die Tür geöffnet hatte. Nass, sagte sie, schön gespielt. Es half nichts. Ich musste breitbeinig in stark gebückter Haltung den Hintern nicht zu fest zusammengekniffen, die Unterhose bereits glitschig feucht an ihr vorbei aufs Klo laufen. Dort gab ich endlich dem Druck nach und mit einem Gefühl ewiger Erlösung glitt eine riesige Wurst widerstandslos aus meinem Hintern und platschte ins Wasser der Toilette, das es aufspritzte. Als ich in aufrechter Haltung an meiner Mutter vorbei mein Zimmer zurückgehen wollte, fragte sie mich, ob ich öfter solche Bauchkrämpfe hätte. Ich nickte, weil es mir lieber war. Meine Mutter glaubte, ich hätte Bauchkrämpfe gehabt, als dass sie vermutete, dass ich so lange nicht aufs Klo gegangen war, bis ich mich fast angeschissen hätte. Sie bestand sofort darauf, noch am selben Tag mit mir zu unserem Hausarzt zu gehen. Der Hausarzt tastete meinen Bauch ab, stellte fest, dass er nicht verhärtet war und fragte mich dann, ob ich vielleicht öfter einmal, wenn ich groß müsste, nicht gleich aufs Klo ginge, sondern den Stuhl einhalte. Es war furchtbar. Ich stritt vehement ab, jemals irgendetwas zurück oder eingehalten zu haben, aber ich glaube nicht, dass er mir glaubte. Er erzählte mit Sicherheit meiner Mutter von seinem Verdacht, weil ich künftig beim Spielen meine Zimmertür nicht schließen durfte. Vielleicht ist es ja der Vergleich, der unser Körpergefühl ausmacht. Wer in seine eigene Welt versunken ist, vergleicht nicht. Ich habe einen geraden Rücken, Nils hat einen Buckel. Ich bin ganz flach, Etta hat schon einen Busen. Was spielt das für eine Rolle, wenn ich auf dem Amazonas um mein Überleben kämpfe? Sollte es zu einem Darmverschluss kommen, spielt es allerdings eine Rolle. Ich taste täglich meinen Bauch ab, ob er weich oder hart ist. Mitten in die schönsten Abenteuer schleicht sich der leise Verdacht, gerade die schönsten Augenblicke könnten mir zum Verhängnis werden und alles, was besonders leuchtet und strahlt, könnte in ewiger Verdammnis schrecklichen Koliken münden und schließlich zum qualvollen Tod führen. Ich habe immer schon die Erbsünde für die verständlichste aller katholischen Dogmen gehalten. Wir werden mit der Sicherheit geboren, dass wir sterben werden. Dieser Gedanke ist mit unserer Geburt da, er muss nur noch reifen im Lauf unseres Lebens. Im Nachbarhaus stiegen nachts fremde Männer durchs Kellerfenster. Meine Eltern taten, wer weiß, wie geheimnisvoll, wenn sie darüber sprachen. Eines Nachmittags schlich ich zum Nachbarhaus und sah, dass ein Fenster zum Keller nur angelehnt war. Das zweite von rechts. Direkt unter dem Fenster war, wie bei uns auch, die Waschküche mit dem Waschtisch. Wozu genau ein Waschtisch eigentlich vorgesehen war, hat sich mir nie erschlossen. Tatsache war, dass er direkt neben der Waschwanne und dem Waschbottich stand, der von unten mit Kohle geheizt werden konnte. In der Waschwanne wurde die Wäsche eingeweicht. Dann kam sie in den heißen Waschbottich, wo die Wäsche mit einem langen Holzstab ständig umgerührt und je nach Verschmutzungsgrad hinterher noch mit Kernseife auf dem Waschbrett gerubbelt werden musste. Dann wurde sie in der Waschwanne wieder ausgespült. Ich mochte den Waschtag gern, weil dann die ganze Waschküche in Nebel gehüllt war, sodass man keine zwei Meter weit sehen konnte. Ich stellte mir immer vor, es wäre meine Hexenküche. Ich stellte mir immer vor, es wäre meine Hexenküche. Während meine Mutter sich mit den schweren, nassen Wäschestücken plagte, hexte ich, dass sie auf den schmutzigen Betonboden der Waschküche fielen, was auch tatsächlich öfter der Fall war. Meine Mutter schimpfte dann vor sich hin und warf sie wieder in den Bottich. Die Frage war nur, was machten die fremden Männer in der Waschküche des Nachbarhauses? Das Rätsel hätte sich mir nie erschlossen, wenn ich nicht eines Nachts besonders lange Rosenkränze zur Errettung meines Onkel Wilhelms, der kurze Zeit vorher gestorben war, gebetet hätte und dabei hörte, wie meine Mutter im Wohnzimmer zu meinem Vater sagte, die Frau Homolka liege nachts nackt auf dem Waschtisch, sodass die Männer direkt auf sie hinuntersteigen könnten. Warum um Gottes Willen sollte die Frau Homolka nachts statt in ihrem Bett in der Waschküche auf dem harten Waschtisch liegen? Und noch dazu nackt. Übrigens eine schreckliche Vorstellung. Die Frau Homolka war sehr dick und ich war überzeugt, dass sie sich auf dem Waschtisch kaum waren die Männer auf sie heruntergestiegen, umgedreht und die Männer reihenweise unter sich zerquetscht hatte. Die Episode dauerte nicht lange. Irgendwann verschwanden die Hohenmolkas aus unserer Siedlung und das Waschküchenfenster war wieder geschlossen. Was habe ich eigentlich, 66-jährig, in einem Haus am Rande eines Naturschutzgebiet sitzend und schreibend mit einer Siebenjährigen zu tun, die versucht, die Geheimnisse in einer Waschküche zu entschlüsseln? Erfinde ich diese Siebenjährige, indem ich über sie schreibe oder hat es sie wirklich gegeben? Und wenn ja, war sie vielleicht ganz anders, als ich sie beschreibe? Und was bedeuten alle diese Tatsachen wie Waschküche, Indianerspiele, Hausmeister? Ist auch nur irgendetwas daran real oder sind es Chimären am Horizont eines glasklaren Föhntages? Wenn ich mich vor den Spiegel stelle, kann ich keine Spuren dieser Siebenjährigen in meinem Gesicht entdecken. Auch nicht die einer 18-, 20- oder 30-Jährigen. Alles nur in meinem Kopf, seinem Universum und dem Paralleluniversum. Seltsam, wie es ihm gelingt, die vielen Ichs in dieses Eine, mein Leben zu gießen. Aber vielleicht ist es ja auch ganz andersherum. Und mein jetziges Ich in einem Haus am Rande des Naturschutzgebietes sitzend und schreibend ist die Schimäre am Horizont eines glasklaren Föhntages. Vielleicht sitze ich ja in Wirklichkeit auf einem spitzen Felsbrocken am Rande des Urmeeres und lache. Ja, vielen Dank, Margit, für die Lesung, die, glaube ich, einen sehr guten Eindruck vermittelt von diesem Schreibprozess der Erinnerung eben an die Kindheit, der sich nicht scheut, quasi auch so hinter die Kulissen zu blicken, das Private tatsächlich jetzt eben in den Mittelpunkt stellt, etwas, was die Eltern oder die Erwachsenen eigentlich immer verschweigen möchten. Du hast in einem Essay einmal geschrieben, dass du eigentlich seit deiner Kindheit der tiefen Überzeugung bist, dass nichts schlimmer ist als das Verschweigen. Und sei es das Verschweigen, wie es in diesem Text heißt, des Fettflecks auf der Geburtstagstischdecke. Ist das tatsächlich jetzt dieser Anspruch auch, in diesem Buch das Verschwiegene eigentlich an die Oberfläche zu bringen. Ja, eigentlich schon. Also das war mit dem Privaten sozusagen die Uridee, weil da gibt es einen ganzen Kosmos von Dingen, die unmöglich waren, damals auszusprechen, anzusprechen, nicht einmal mit Freundinnen. anzusprechen, nicht einmal mit Freundinnen. Es war ein großer Schleier. Also gerade so sexuelle, analsexuelle Sachen, Doktorspiele, man wusste den Namen, es gibt Doktorspiele, aber man hätte niemals darüber gesprochen oder geschrieben. Und ich glaube, es ist auch heute noch ein Tabu, weil man sieht immer in den Talkrunden, was da alles möglich ist auszusprechen, ich vermisse dich oder komm zurück oder da werden die intimsten Sachen eigentlich aufgezählt und trotzdem hat man nie das Gefühl, es ist eine Realität dahinter. Es ist keine Realität, es ist eine Scheinrealität. Und ich glaube, dass viele von den Talkshows oder von denen, was heute als offen gilt, auch gefaked sind. sind. Also teilweise sind die Teilnehmer Schauspieler und der Regisseur inszeniert das so, wie er sich vorstellt, dass das Leben ist. Aber wie das Leben ist, sagt keiner. Sondern immer nur, was man darüber sagt. Und das ärgert mich schon ewig. Da hast du völlig recht und mit dem Fettfleck, das war so, wenn bei uns auf der Geburtstagstischdecke ein Fettfleck war, dann hat meine Mutter sofort ein Glas genommen und hat es draufgestellt. Und dass man es ja nicht sieht. Und ich habe immer den Traum gehabt, dieses Glas wegzustellen. Und wenn es mir gelungen ist, habe ich es auch gemacht und es war so ein Trieb. Du beschreibst ja die Welt der Kinder, also deine Welt der Kinder und die Welt der Erwachsenen, als ziemlich getrennte Welten, also zwischen denen es eigentlich wenig Verständnis oder auch wenig Gespräch gibt. Glaubst du, dass dieses rebellische Mädchen, das du jetzt beschrieben hast, dass du auch tatsächlich selber warst, offenbar als Kind? Das frage ich mir oft, ob ich es wirklich war. Aber dass das sozusagen dein Versuch war, im Schreiben das aufzudecken, ist das sozusagen das Motiv eigentlich des Schreibens? Naja, es ist so, dass, weil ich mich eben, also ich habe eher den Eindruck von Distanz her betrachtet, dass ich ein schüchternes Kind war, das nicht viel gesagt hat. Also ich spreche jetzt sozusagen aus, was innen war. Aber die Rebellion ist auch meine Rebellion heute. Und es kommt nämlich darauf an, also ich könnte meine Kindheit diese Art, wie Kinder gehalten wurden. Und deshalb musste die, es war, es muss man sagen, einerseits wütend, andererseits kann man es verstehen, weil ich bin acht Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Das muss man sich vorstellen, acht Jahre ist nichts. acht Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Das muss man sich vorstellen. Acht Jahre ist nichts. Und da war also diese Elterngeneration, die im Krieg war, die im Faschismus war, ob sie jetzt mitgemacht haben oder nicht, das ist schon ein Unterschied. Also meine haben nicht mitgemacht, aber so halt schweigend die Zeit überstanden oder überlebt. Und da bleibt natürlich unheimlich was hängen. Und das wird auch die nächste Generation weitergeben. Das wird ja auch die nächste weitergetragen und das muss auch ich abbauen. Also im Laufe meines Lebens musste ich diese Geschichte wieder aufbauen und meine Tochter muss wahrscheinlich wieder daran arbeiten. Weil es so eine lange Folge hat, so schreckliche Ereignisse mit so vielen Millionen Toten, das kann man gar nicht in einer Generation aufarbeiten. Das kostet viele Generationen und mir ist immer wichtig, dass man auch das noch spürt, was da noch alles war. Und was brodelt unter dem. Ja, was darunter brodelt. Es führt vielleicht zu einer Frage, die mich auch noch interessieren würde. Im Buch ist es ja sehr klar, dass dieses Mädchen eher sich am Vater orientiert und nicht an der Mutter. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater ist Bilanzbuchhalter in der Föst. Also diese ganze Föst-Siedlung wird ja sehr plastisch und sehr sinnlich, auch finde ich, und sehr schön beschrieben. War diese Auseinandersetzung mit der Mutter oder diese Perspektive, so ein Leben zu führen, was du da vorgelebt bekommen hast, Motivation für deinen Feminismus? Ja, schon. Also so wollte ich nicht, aber ich muss jetzt sagen, so wie meine Eltern gelebt haben, ich wollte auch als Paar nicht so leben. Weil, dass ich zu meinem Vater eher tendiert habe, war ganz bestimmt, weil der hat was gemacht. Der war im Beruf, der ist weggegangen. Und was ganz wichtig war, mein Vater hat mich nicht durchschaut, meine Mutter aber schon. Meine Mutter ist aufgeschaut und hat gesagt, aha, jetzt machst du wieder so ein Gesicht. Mein Vater wäre überhaupt nicht draufgekommen, dass ich irgendeine Art von Gesicht mache. Der hat seine Zeitung gelesen und wenn ich gesagt habe, ich bin heute, also wenn ich spielen wollte, ich bin heute ganz gelassen und bin ganz stark, dann hat er das sofort geglaubt. Meine Mutter nicht. Die hat gesagt, was machst du denn da schon wieder, was täuscht du denn vor? Und das war so schön, dass mein Vater mir das geglaubt hat. Und dass er halt gearbeitet hat und zwischen meinen Eltern hat es einen ewigen Wettstreit gegeben. Meine Mutter ist aus dem Ruhrgebiet und mein Vater aus dem Böhmerwald. Und diese zwei Welten, das war also Stadt, Land, das war Deutschland, Österreich, das war sprachlich, kleidungsmäßig. Also meine Mutter hat immer, wenn mein Vater erzählt hat, in Böhmerwald haben wir uns damals, wir hatten ja noch keine Ski gehabt, da haben wir uns so Balken geschnitzt und die haben wir uns um den Schuh gebunden, hat meine Mutter gesagt, so primitiv. Also meine Mutter, die kann ja nicht einmal über den Bach springen. Das ist ja nicht einmal imstande. So war irgendwie der, und da habe ich mich auf die Seite von meinem Vater geschlagen. Also dieses Hausfrauenleben war gerade keine Perspektive. Aber ich muss sagen, auch das von meinem Vater nicht. Ja. Aber es kommt deutlich heraus, dass die Mädchen zum Beispiel diesen Verein gegen die Mütter gründen und so. Kindheit ist aber in diesem Buch und ich finde auch in den Stellen, die du vorgelesen hast, wird schon auch sehr sinnlich und plastisch erfahrbar, dass es eine Welt der Kinderspiele, der Fantasiewelten ist, die auch unberührt von den Erwachsenen ein, das ich so nicht kenne, wo Mädchen und Buben getrennt sozusagen um die Wette pinkeln, mehr weiter pinkeln können. Das ist eine Ebene, finde ich, im Text, die doch auch sozusagen abseits dieser Kriegserklärungen an Erwachsenen ist. Ja, da waren ja die Erwachsenen nicht dabei. Und in dem Moment, wo die Erwachsenen dazukommen sind, war es schon Krieg. Also gerade beim Bettpinkeln sind wir dann ja erwischt worden und das war Mords, weil das ist dann gleich als Orgie ausgelegt worden und alles Mögliche und das war dann gleich furchtbar. Oder ich hätte nie erwischt werden dürfen, wie nackt vor dem Spiegel stehe. Also wo die Eltern dazukommen sind, war sofort der Konfliktbereich. Und ich glaube schon, weil dieser Hinterhof von der Föst, da waren vielleicht 10, vielleicht mehr, 15 Kinder. Und die Mütter waren ja froh, die schicken wir jetzt raus, die spielen dann und dann können wir kochen und dann können wir in Ruhe putzen und da war schon wirklich ein Freiraum. Also wenn ich mir vorstelle, ich wachse auf in einem Reihenhaus oder in einem Einzelhaus, dann habe ich den Garten und da kann ich vielleicht zwei Kinder einladen, aber ich habe nicht dieses soziale Spektrum. Und das mir als Einzelkind sowieso abgegangen ist, weil immer wenn ich mit Leuten rede, die mehrere Geschwister haben, dann haben die auch so einen Querschnitt durch die Gesellschaft. Also der eine wird Lehrer und der andere Koch oder irgendwas, so etwas Verschiedenes. Und das war ja bei mir nicht. Und ich war immer mit Erwachsenen zusammen, weil meine Eltern sehr alt waren. Und das war der Hof, also diese soziale Brandbreite. Die auch eine Welt tatsächlich für sich war. Ja, also jetzt nicht so wie zum Beispiel jetzt, wo ich im Waldviertel wohne und wo ich Kindheitsgeschichten höre von Leuten, die dort aufgewachsen sind. Das war nochmal ganz was anderes. Also die waren dann nicht im Hinterhof, sondern in einem riesigen Waldgebiet. Das ist dann noch viel spannender. Da kann natürlich furchtbar viel passieren. Du beschreibst sehr gut diese Fremdheit zwischen Eltern und Kindern. Aber deine Familie hat sich ja doch auch unterschieden jetzt von anderen. So wird es im Buch beschrieben, weil sie ein Theater-, ein Opern- und Konzertabonnement hatten, weil es Bücher gab. Wie wichtig waren diese Bücher oder diese Welt der Sprache, auch der Kunst, schon in der Kindheit? War das etwas, was quasi dann doch auch zur Schriftstellerin vielleicht ein Stück Weg eröffnet hat? Also die Kinderbücher, die wir vorgelesen haben, da konnte man nur im Gegenzug, Gegenwelten finden, also Nesthäckchen, das kennt ja niemand, Nesthäckchen, Trotzkopf, solche Sachen. Trotz Kopf, solche Sachen. Aber ich habe mich immer interessiert für die Bibliothek meines Vaters und die bestand aus zwei Teilen. Ein Teil stand in derbert drin und da waren dann die Bücher, die ich auf keinen Fall lesen sollte. Und das war dann sehr schön, die alle zu lesen. Die Stellen hat man dann gesucht. Nein, aber mein Lieblingsbuch als Kind war sowieso ein Ärztebuch, kann man nicht sagen, sondern ein Krankheitsbuch, das so für die Familie, wo halt alles drin steht, Masern und Scharlachen und so. Und dieses Buch, das hat mich fasziniert, weil da ist jede Krankheit, also jede kleine Verkühlung, hat praktisch schlimmstenfalls mit dem Tod geendet. Und so ein Pickel, das konnte schon verunkelt werden und Eiter im ganzen Körper und das habe ich genau studiert. Und Meyers Lexikon, das ist eigentlich meine Schriftstellerbasis. Meyers Lexikon aus dem Jahr 1929 und da waren noch zum Teil Fotos und zum Teil auch Zeichnungen, also von Indianerstämmen, Eskimos, Inuits sagt man aber im Stand noch Eskimos und also alles, alle Kräne die es gibt, Flaschenproduktionen, es war da alles drin. Und das war eigentlich für mich viel wichtiger als die ganze Schule, muss ich sagen. Du hast am Anfang gesagt, dass über das Private auf mehrere Bände angelegt ist. Kannst du da schon was drüber sagen? Also wir haben ja jetzt quasi die Volksschulzeit in der Kindheit. Hast du beschrieben? Das nächste Buch erscheint bald. Im Frühjahr. Also wenn der Schöffling weiter tut. Ist das chronologisch quasi dann schließlich? Ja, das ist dann die Mittelschulzeit. Und du willst das fortsetzen? Ja, ich will es fortsetzen. Und zwar die Mittelschulzeit und dann die Salzburger Zeit, das Studium, Paris, die Zeit in Paris, nach vorher kommt noch Tokio, dann die Zeit in Paris und dann die Zeit noch in Italien. Und dann möchte ich ein letztes Buch schreiben, aber das weiß ich nicht, ob ich das dann wirklich tun werde. Das geht vor jede mögliche Erinnerung. Also das soll dann beginnen in der Schwangerschaft meiner Mutter. Und was ich mir da alles so denke im Bauch und so weiter. Also sagen wir mal, man weiß es nicht genau, ob es gelingen wird. Wir können gespannt sein. Ja, Krankheit ist auch ein Thema in dem Buch. Körperlichkeit, Kinderlähmung haben wir schon gehört. Impfen ist ein Thema. Es kommt auch Corona vor, also es wird wieder ein bisschen. Und warum du eine Scharlach-Erkrankung im Sommer 83, die ja zur Folge hatte, dass man sich isolieren musste, in Quarantäne gehen, uns das ja jetzt im letzten Jahr auch nicht verrebent war, warum aber diese Wohnungsisolation in allerbester Erinnerung geblieben ist, das hören wir jetzt. Okay. Es ist ganz kurz jetzt. Es ist ganz kurz jetzt. Es war in meinen letzten Schulwochen vor dem Wechsel von der Volksschule ins Gymnasium. Ich war einerseits heilfroh, die neugierige Lehrerin mit ihrem Faible für blonde Mädchen und ihrer Abneigung gegen Arbeiterkinder loszuwerden. Andererseits wusste man ja nie, was nachkam. Der Gedanke, dass wir statt einer einzigen Lehrerin auf einen Schlag 15 verschiedene Lehrer haben würden, beunruhigte mich etwas. Es konnten unmöglich alle 15 Lehrer bösartig sein, oder doch? Ilse, die nach den Sommerferien bereits die dritte Klasse Gymnasium besuchen sollte, hatte einem Biologielehrer der Schülerinnen, die sich freiwillig meldeten, Stabheuschrecken mit nach Hause gab, damit sie beobachten konnten, dass Stabheuschrecken sich von selbst vermehren. Einerseits interessant, andererseits eine Gemeinheit. Die Stabheuschrecken vermehrten sich so rasant, dass Ilse schließlich auf Befehl ihrer Mutter hunderte Heuschrecken töten musste. der Heuschrecken träumte. Markus hatte im Internat in Weidhofen an der Theia einen Turnlehrer, der als Strafe für Sprechen während des Volleyballspiels 100 Liegestütze aufgab, was selbst Markus alles abforderte. Ein unsportlicher Mitschüler, ein Genie in Mathematik und Physik, sei bereits beim 18. Liegestütz zusammengebrochen und habe daraufhin jeden Tag nach der Studierstunde in der Freizeit ins Sprechzimmer des Turnlehrers gehen und dort vor dessen Augen jeweils 15 Liegestütze machen müssen. Ich wollte mich von den Schauergeschichten über die Lehrer nicht davon abschrecken lassen, mich aufs Gymnasium zu freuen, aber so richtig gelang es mir nicht. Es war doch eine bedrückende Zeit. Hansis Eltern hatten sich scheiden lassen und er war mit seiner Mutter nach Urfa gezogen. Jörgi und seine Schwester Birgit waren mit ihren Eltern nach Dänemark zurückgekehrt und Theo sollte im Herbst in die Sonderschule kommen. Als er uns davon erzählte, erlitt er vor Wut einen epileptischen Anfall. Ist es möglich, dass man vor lauter Panik vor einer ungewissen Zukunft Infektionskrankheiten bekommt? vor einer ungewissen Zukunft Infektionskrankheiten bekommt, dass ständige Angst das Immunsystem schwächt, sodass jeder dahergelaufene Virus beste Bedingungen hat, sich einzunisten und sein zerstörerisches Werk zu beginnen. Eine Art negativer Placeboeffekt. Im Sommer 1963 bekam ich, relativ spät für mein Alter, Scharlach, was damals als höchst ansteckend und gefährlich galt. Symptome wie Ausschlag, Fieber und Halsschmerzen dauerten nämlich nur ein paar Tage an. Ohne Krankenhausaufenthalt musste man damals aber fünf Wochen im Bett bleiben, da die Gefahr einer Organschädigung bestand. Warum diese Gefahr bei Krankenhausaufenthalten nur auf zwei Wochen beschränkt war, weiß ich nicht. Penicillin bekam ich auch so, in flüssiger Form. Da die Flüssigkeit ausgesprochen ekelhaft schmeckte, wurde sie mir mit Nougat-Schokolade verabreicht. Das heißt zuerst einen Esslöffel Penicillin, dann eine kleine Tafel Nougat-Schokolade. Die kleine Tafel Nougat-Schokolade war von Benzdorf, hatte einen pinkfarbenen Einband, bestand aus fünf Schokoladerippen, die hintereinander angeordnet waren und war meine absolute Lieblingsschokolade. Es gibt sie schon lange nicht mehr. Nachdem meine Eltern sich Gott sei Dank für häusliche Pflege entschieden hatten, bekamen wir ein Schild an die Tür. Achtung Infektionsgefahr. Niemand durfte uns besuchen und wenn mein Vater von der Arbeit und meine Mutter vom Einkaufen zurückkamen, mussten sie die Hände 30 Sekunden lang gründlich waschen, desinfizieren und einen weißen Kittel anziehen. In der Früh, zu Mittag und Abend aßen wir alle an einem Campingtischchen neben meinem Bett. Mein Vater las sogar seine Morgenzeitung in meinem Zimmer. Abends spielten wir Mensch ärgere dich nicht oder Halma oder Fang den Hut. Ich habe die Krankheit in allerbester Erinnerung. Ich schrieb in der Zeit meine ersten Gedichte. Mein erstes Gedicht überhaupt handelte vom Atomkrieg. Leider haben meine Eltern es mit dem Heft, in dem auch meine anderen Gedichte standen, nach meiner Schallacherkrankung verbrannt, wegen der Infektionsgefahr. Übrigens wurden auch die Puppen, mit denen ich gespielt hatte, entsorgt. Nur meinen Teddy konnte man Gott sei Dank mit 60 Grad waschen. Danach war sein Fell zerflettert und er hatte nur mehr ein Ohr. Die letzte Zeile meines ersten Gedichtes habe ich mir gemerkt. Sie lautete, wie soll durch Atombomben die Welt besser werden? Die Kubakrise Ende 1962 muss mich doch sehr beeindruckt haben. Meine Eltern jedenfalls weinten, als ich das Gedicht vorlas. Ich schrieb auch Kurzgeschichten in das Heft und den Anfang eines Romans. Der Titel lautete Wendy, ein Kriminalroman. Und er handelte von zwei vertauschten Prinzessinnen, die wegen der Verwechslung in großer Armut lebten. Ständig fand sich irgendeine Leiche in der Badewanne im Keller im Schlafzimmer der beiden. Soweit ich mich erinnere, ging es um eine Intrige bei Hofe. Auch die Verwechslung hing damit zusammen. Meine Eltern mussten sich abends alles anhören, was ich geschrieben hatte und ich kann sagen, sie waren begeistert oder taten wenigstens so. Es war eine schöne Zeit. Vielen herzlichen Dank für die Lesung und für das Gespräch. Sie können Vater, Mutter, Kind, Kriegserklärungen heute bei uns erwerben. Ich verweise auf den Büchertisch. Ich lade Sie ein, noch ein bisschen im Stifterhaus zu bleiben. Margit Schreiner wird sicherlich signieren, oder nehme ich an. Ich bedanke mich, dass Sie heute zu uns gekommen sind und wünsche Ihnen weiter noch einen schönen Abend. Danke sehr.