Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Gäste, schön, dass Sie alle hier sind. Hören Sie mich gut? Es ist das Mikro noch nicht ideal, gell? Das sage ich jetzt an die wunderbare Gruppe, an das Team, das hinten für die Veranstaltungstechnik zuständig ist. Danke jetzt schon allen Beteiligten, Silvia Leitner, dem Ton- und Technikteam, Gebäude und Technik, die machen das nämlich jeweils wunderbar. Einen Applaus bitte. So, ich beginne ganz hoch offiziell natürlich. Es ist ja auch in gewisser Weise ein offizieller Anlass. Liebe Gäste, liebe Universitätsangehörige, sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie zur heutigen Abschiedsvorlesung, so ist es betitelt, zu einer Abschiedsvorlesung von Thomas Macho. Und natürlich, wie sollte es anders sein, ein bisschen wehmütig, aber umso herzlicher begrüße ich Thomas Macho und seine Frau Annett. Sie sind heute alle unsere Ehrengäste. Besonders erwähnen will ich aber natürlich viele Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter, Freunde, Kollegen und Kolleginnen von Thomas Machu, aber auch zwei Rektoren, die außer mir also unser Trio heute vervollständigen. Das ist Helmut Xölpoindner und Reinhard Kanonier. Herzlich willkommen. und Reinhard Kanonir. Herzlich willkommen. Und ich begrüße sehr herzlich alle Kolleginnen und Kollegen, Fellows vom IFK, die aus Wien hierher gekommen sind. Wunderbar. Abschiedsvorlesung. Abschiedsvorlesung und Thomas Macho. Eine Schwierigkeit. Was sagt man dazu? Für mich gesagt eigentlich nichts, weil sie ja nicht wegen meiner Ausführungen gekommen sind, sondern um Thomas Macho die Ehre zu erweisen und seinen Vortrag zu hören. Und dennoch kann so ein Anlass nicht ohne ein paar Ausführungen auskommen. Bei einer Antrittsvorlesung stelle ich die Persönlichkeit und deren Lebenslauf jeweils vor. Es geht daher immer um neue Professorinnen oder Professoren. Das ist bei Thomas Macho weder notwendig noch angebracht. Es ist keine Antrittsvorlesung, das ist einmal sicher. Alle kennen und schätzen wir Thomas Macho. Er gehört zur Kunstuniversität wie ein Körperteil zum Menschen und wer würde schon dem eigenen Körper die eigene Milz vorstellen wollen? Ich gehe also anders vor, mit der Methode des Widerspruchs. Diese Methode scheint mir angemessen, angemessen in Bezug zum Anlass, nämlich dieser heutigen Veranstaltung, angemessen auch in Bezug auf die Konstellation, du als Teil unserer Universität, und angemessen in Bezug zu meinem persönlichen Gemütszustand. Also Widerspruch, eigentlich zwei Widersprüche. Erster Widerspruch, wir haben angekündigt, schriftlich angekündigt, steht auf den Plakaten, es steht auf unseren jeweiligen Kommunikationsformaten, Thomas Macho hält zum Abschied eine Vorlesung. Das klingt ein wenig nach Thomas Bernhard, der sich mit Klaus Peimann eine Hose kauft und über die Sulzwiese geht. Und der Widerspruch, Thomas Macho hält keine Abschiedsvorlesung. Er begeht den Anlass der Zurücklegung seiner IFK-Leitung mit einem Vortrag. So will ich es durchaus akzeptieren. Von mir aus auch als Vorlesung. Es ist kein Abschied in seiner Endgültigkeit. Es ist das Begehen eines Anlasses, den Thomas Machu selbst gewählt und herbeigeführt hat. Und der, glauben Sie es uns, von uns überhaupt nicht herbeigesehnt war. Im Gegenteil, wir hätten es uns sehr anders gewünscht. Widerspruch 2. Es steht weiters in den Ankündigungen, der bekannte Kulturphilosoph spricht an der Kunstuniversität Linz über Imaginationen, Metaphern und Routen der Lebensreise. Am 15. November hält Thomas Macho damit im Audimax des Unigebäudes in der Domgasse seine letzte Vorlesung. So steht es da. Dass es keine Abschiedsvorlesung ist, haben wir bereits besprochen. Dass es demnach auch keine letzte Vorlesung sein kann und sein wird, muss hier klargestellt sein. Sie merken, wir tun da nicht mit. Wir finden Formate, um Thomas Macho neben Vorträgen auf der ganzen Welt auch weiterhin zu Vorträgen an unserem Haus zu verführen. Jetzt lasse ich es aber mit der Methode des Widerspruchs. So originell ist das ja dann auch nicht für eine ganze Rede. Und ich komme zu einer Wahrnehmung. Ich setze mit einer Wahrnehmung fort. In demselben Newsletter, der wöchentlich an unserer Universität erscheint, er heißt Im Gespräch bleiben, ist ein internes Format, kommt gleich nach der Ankündigung der heutigen Veranstaltung eine andere Veranstaltung beziehungsweise ein anderes Format, ebenso als Ankündigung, nämlich am 17. November, wir merken übermorgen, eröffnet der Wärmepol 2023 im Innenhof des östlichen Brückenkopfgebäudes an der Kunstuniversität. Für alle, die aus Wien anreisen und noch nicht am Wärmepol waren, das ist ein Punschstand unserer Architekturabteilung, gespickt mit Veranstaltungen und Kunstprojekten der Studierenden. Aber immerhin auch ein Puntstand, ein köstlicher Punt im Übrigen. Natürlich hat dieser Puntstand nichts mit der heutigen Veranstaltung zu tun. Es war schlicht der nächste Programmpunkt im universitären Ankündigungsformat. Und doch Wärmepol. Thomas Macho ist genau so etwas. Gell, lieber Thomas, das hast du nicht gedacht, dass du einmal Wärmepol genannt wirst. Man muss schon einiges über sich ergehen lassen. Deine Persönlichkeit, dein Wissens- und Leseschatz und dein Lebenswerk, das völlig zu Recht 2022 angesichts deiner zahlreichen Veröffentlichungen und Rezensionen mit dem österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet wurde, sind für uns alle ein riesiger, ein wirklich immens großer intellektueller Wärmepol. Deine Bücher und Aufsätze sind genauso wie deine jüngste Monografie, warum wir Tiere essen oder auch sehen ohne Augen, vielfältiger Anstoß fürs Nachdenken und Weiterdenken, genauso wie Gespräche mit dir. Irgendwie dachte ich noch bei jedem unserer Gespräche, ich darf ja nichts vergessen, ich hätte am liebsten einen Blog dabei. Thomas hat schon wieder sechs Bücher gelesen, die ich auch unbedingt sehen und lesen wollte. Ich schaff's nur nicht. Du bist ein viel lesender und viel gelesener Autor. Ein, bitte verzeih mir das auch, aber ich halte es wirklich für richtig, ein Universalgelehrter, so wie ich sonst keinen kenne. Mit deiner Lehre an der Kunstuniversität bereichertest du Generationen von Studierenden. Deine Vorlesungen und Seminare seit dem Sommersemester 1993 an unserer Universität haben sich verschiedenen Themen gewidmet. Ich hatte diese Themen aufgezählt hier am Zettel. Ich habe es jetzt mir erspart, weil Karin wird gleich nach mir einen kleinen Bogen spannen, wie deine Lehre gestaltet war und zu welchen Themen du auch gelehrt hast. Wir danken dir für all diese Begegnungen und Impulse. Wir danken dir zum Anlass deines Abgangs als IFK-Leiter, aber nicht aus Anlass deines Abschieds, der noch lange nicht bevorsteht und bevorstehen möge. Wir wünschen dir weiterhin alles erdenklich Gute, Gesundheit und viele, viele Bücher, die du liest und die du schreibst. Und wir wünschen uns noch viele Begegnungsmöglichkeiten mit dir an unserer Universität und weiter darüber hinaus bei Vorträgen und Diskussionen und natürlich bei persönlichen Gesprächen. Ja genau, ich mache ein bisschen weiter, aber nicht viel. Es wird eher so etwas wie eine performative Lesung aus dem UFG online sein. Stellen Sie sich vielleicht langweilig vor, ist es aber überhaupt nicht. Es ist natürlich ziemlich paradox, jemanden hier vorzustellen an diesem Haus, der so lange hier gewirkt hat. Sehr viele, die ich hier im Raum sehe, haben mit Thomas gearbeitet, mit ihm gedacht und sehr viele kennen ihn länger als ich. Ich möchte deshalb eben nur so ein paar Momente dieser vielfältigen Aktivitäten an der Kunstuni aufblitzen lassen. Die Verbindungen zur Kunstuni gehen sehr weit zurück. Es ist gerade erwähnt worden, 1992, 1993 im Studienjahr finden sich die ersten Einträge im OFG online. Ich war ziemlich überrascht, dass das OFG Online schon so lang besteht. 1992, 1993, Reaktion, Arthur Summerräder, gab es da schon Computer? Also es muss schon Computer gegeben haben. Die Lehre ist seit 1992, 1993 verzeichnet. Ich weiß, dass Thomas Listen ganz und gar nicht abgeneigt ist, deshalb habe ich einfach zwei Listen vorbereitet. Erste Liste, Lehrveranstaltungen an der Kunstuni seit 1993, Philosophie der Kunst 1 und 2, Ideengeschichte und Werkbetrachtung, Projektentwicklungsgespräche, Kunstphilosophie und Kulturgeschichte. Darin gibt es verschiedene Unterkategorien, Visualisierungen der Zeit, Bild und Gewalt, Kunst und Magie, zur Mediengeschichte der Selbsttechniken, Bilder, Schriften, Zahlen, anders als an der Humboldt-Uni, wo es hieß Bild, Schrift, Zahl. Thomas mag immer den Plural lieber als die Einzahl. Also Bilder, Schriften, Zahlen. Hitchcocks Filme, Science and Fiction im Film. Dinge, Werkzeuge, Instrumente. Politik der Farben. Mythos, Karmen in Film und Literatur. Tiere im Film und so weiter und so fort. Ein riesiger Bogen an tollen Themen, die hier an der Kunstuni verhandelt wurden. Und dann gibt es natürlich sehr, sehr viele Privatissima für Dissertantinnen. Das ist die zweite Liste. Zweite Liste der betreuten und abgeschlossenen Promotionen hier an der Kunstuni. Also wohlgemerkt nur an der Kunstuni und nur die abgeschlossenen. Also es gibt noch welche, die laufen und es gab an anderen Unis natürlich unzählige mehr. Es sind dies sage und schreibe 26 und ich lese jetzt nur die Titel vor. Ich glaube, es chast ein bisschen. Ich lasse, ich hoffe, das ist in Ordnung, die Namen der Promovierenden weg, um da einfach auch nochmal diesen Reigen an tollen Themen vor unseren Augen erstehen zu lassen. Der Atem des Unpersönlichen, symbolisierte Kinematografie, I'll be your mirror, Adolf Loos oder Margarete Schütze-LHotzki oder beide. Digitale Puppen. Großperiodenrechnungen in Kalendersystemen. Neugestaltung öffentlicher Raum, Marktplatz Ried im Innkreis. The Beauty of the Lingering Time. Calle Libre, urbane Kunst in Lateinamerika. Entwicklung der künstlerischen Forschung am Beispiel österreichischer Kunstuniversitäten. Random Access Memory. Spätantike Textilien unter Beobachtung. Die Herstellung der Buchstaben. Nützliches Nichts. Das Künstlerbild in der Osokbo-Kunst, die Spurensicherung des Nikolaus Lang, Crowd and Art oder die anderen im Kontext der Netzkunst, mit Rennwagengeschwindigkeit bergab, die Filme des Tsai Ming-Liang, die Zirkulation des Begriffs nomadisch im Kunstkontext, des Begriffs nomadisch im Kunstkontext. Appropriate Japan. Gute Laune ist ein Kriegsartikel. Stargazing. Orchestra Projects. Instruments for Social Change. Visuelle Erscheinungsbilder der 11. Olympischen Spiele Berlin 1936 und der Spiele der 20. Olympiade in München 1972. Wer vieles mit Begeisterung macht. Das war zufällig wirklich der letzte Titel in der Liste. Wer vieles mit Begeisterung macht und ich finde, das ist ein sehr, sehr gutes Stichwort, um die Listen abzuschließen. Thomas Macho ist jemand, der vieles mit Begeisterung macht und der mit viel Begeisterung auch diese Promotionen betreut hat und uns alle mit viel Begeisterung erfüllt hat. Die Kunstuniversität Linz wäre ohne ihn und seine Begeisterungsfähigkeit ganz sicher eine ganz andere, eine ärmere und das Gute an Listen ist ja, dass sie nie abgeschlossen sind. Wir freuen uns sehr auf deinen Vortrag. Vielen Dank, liebe Brigitte Hütter, vielen Dank, liebe Karin Harasser, für diese so überaus freundlichen und herzlichen Einführungen. Nun habe ich das Problem, dass ich am liebsten auch eine große Liste von Namen vorlesen würde, denn so viele kenne ich hier. Ich freue mich sehr, dass Reinhard Kanonier und Helmut Gsöllpointner auch hier sind und lieber Helmut, wenn ich zu leise spreche, schick mir sofort ein Zeichen. Dann versuche ich etwas lauter zu schreien, dass die vielleicht ein bisschen noch aufdrehen. Ich rutsche auch ein bisschen näher an die Mikros heran, damit es klappt. Dann sehe ich auch viele Kolleginnen und Kollegen, viele ehemaligen Studierenden, viele Studierenden, die jetzt noch ihre PhD-Projekte verfolgen, alle diese Kolleginnen und Kollegen, Freunde und Freundinnen, alle die Studierenden, alle Gäste, liebes Publikum, seien Sie herzlich begrüßt. Unterschrecken Sie nicht, weil ich jetzt doch einige Zeit reden werde. Hoffentlich nicht zu leise. Die heutige Vorlesung anlässlich des Endes meiner Tätigkeit als Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften, IFK, das seit 2015 der Kunstuniversität Linz gehört, trägt zwar den Untertitel eine Abschiedsvorlesung, steht jedoch zugleich, liebe Brigitte, im Zeichen der Fortführung zahlreicher Freundschaften und Kontakte, die in den vergangenen 30 Jahren aufgenommen und vertieft werden konnten. Auch eine Reihe von PhD-Projekten an der Kunstuniversität Linz, sind einige hier, so viel habe ich schon wahrgenommen, werde ich in den kommenden Jahren, hoffentlich bis zum erfolgreichen Abschluss, weiterhin betreuen und begleiten. Abschluss weiterhin betreuen und begleiten. Der Abschiedsschmerz, so viel sage ich vor allem zu mir selbst, kann also leicht gemildert werden, auch nach deiner Einführungsrede, liebe Brigitte. Manche Abschiede eröffnen auch Chancen für neue Anfänge. Damit zum Thema meiner Vorlesung. Das Thema dieser Vorlesung begleitet mich schon seit einer langen Reihe von Jahren. Ich nenne einige Stationen dieses Weges und muss andere überspringen. Es beginnt eigentlich schon mit einem meiner ersten Texte, den ich verfasst habe damals zum steirischen Herbst. Das war nicht der oberösterreichische Herbst, sondern der steirische Herbst, unter der Leitung damals von Horst Gerhard Haberl. Und es ging um den Nomadismus der 90er. Und ich habe damals ein Essay geschrieben mit dem Titel Fluchtgedanken, der bis heute, glaube ich, auch noch zugänglich ist. Dann gibt es eine ganze Reihe von Vorträgen an den verschiedensten Stellen und Orten im oder auch im ZKM Medienteater in Karlsruhe im Jahr 2017. Und seit 2019 habe ich dann als Key Researcher in der FWF-Forschungsplattform hat das IFK vom 15. bis 21. August 2021 die Sommerakademie Transformationen kultureller und gesellschaftlicher Mobilität in Magdas Hotel Wien veranstaltet. Magdas Hotel ist ein Hotel, das von Geflüchteten betrieben und gestaltet wird. Wir haben diese Sommerakademie damals sehr, sehr intensiv gefunden und genossen. Für mich hat es eine zusätzliche Pointe, die ich hier ausnahmsweise mal verraten darf. Bis wenige Jahre davor hieß nämlich dasselbe Haus, in dem Magdas Hotel untergebracht ist, Josef-Macho-Haus. Das war, glaube ich, die letzte und einzige Erinnerung an meinen im Oktober 1974 verstorbenen Vater, der eben als Caritasdirektor in Wien dann zumindest eine Art von Erinnerungstafel an einem Seniorenheim erhalten hat. Im Frühjahr 2022 habe ich dann als Max K. de Kritik ein Seminar zu Reiseerzählungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur im German Department der Washington University St. Louis durchgeführt und im Wintersemester 2022-23, ich versuche in großen Schritten zur Gegenwart zu kommen, ein Doktorandenseminar zum selben Thema an der Universität Wien gemeinsam mit Annegret Pelz. Und jetzt rücken wir wieder nach Linz. Zuletzt habe ich nämlich schließlich im Sommersemester 2023 gemeinsam mit Jasmin Meersmann ein Seminar an der Kunstuniversität Linz unter dem Titel Unterwegs – Ausflüge in die Kunst- und Kulturgeschichte des Reisens abgehalten. Das war für uns beide eine großartige Erfahrung, denn tatsächlich haben wir über Jahre hinweg auch in Berlin immer wieder zusammengearbeitet. Zugleich hat sich damals schon für uns beide das Ende unserer Linzer Engagements, im Falle Jasmin Meersmans als Professorin für Kunstgeschichte und in meinem Fall eben als Direktor des IFK abgezeichnet. Einige Studierende, die an diesem Seminar teilgenommen haben, habe ich hier auch schon gesehen und freue mich sehr, dass sie heute gekommen sind, obwohl sie manche der Themen, die ich ansprechen werde, durchaus schon kennen. Diese Liste könnte, ebenso wie die Listen, die Karin vorgelesen hat, natürlich mühelos verlängert werden, doch will ich ja keinen Bewerbungsvortrag, sondern eben doch irgendwie eine Abschiedsvorlesung oder eine vorletzte Vorlesung halten. In den folgenden Minuten werde ich zunächst ein Stichwort umkreisen, das meine eben skizzierten Arbeiten über viele, viele Jahre regelmäßig begleitet hat. Es lautet ein bisschen rätselhaft Vertikale Migration. So heißt auch das erste Kapitel meiner Vorlesung. Danach werde ich, wie angekündigt, einige Überlegungen zum längst ubiquitär verbreiteten Begriff des Curriculum Vitae vorstellen, unter Bezug auf Arnold van Krenneps' Rite de Passage von 1908, auf Maximilian Schichs Kultur- und Kunsthistorische Netzwerkforschungen, aber auch auf die 2022 publizierte Dissertation von Stefan Strunz über Lebenslauf und Bürokratie. Und zum Ende meines Vortrags im dritten Kapitel, das erste heißt also Vertikale Migration, von Stefan Strunz über Lebenslauf und Bürokratie. Und zum Ende meines Vortrags im dritten Kapitel, das erste heißt also Vertikale Migration, das zweite heißt Curriculum Vitae, das dritte heißt einfach Styx, das wäre ein bisschen das Traurigste, da werde ich aber vor allem den mehrfach ausgezeichneten und großartigen Film Styx von Wolfgang Fischer aus dem Jahr 2018 kommentieren. Ich darf hier vielleicht am Rande verraten, darauf komme ich nachher nicht mehr zurück, dass ich viele Gelegenheiten wahrnehmen durfte in den letzten Jahren mit unserem direkten Wohnungsnachbarn Benedikt Neuenfels auch über die Entstehung dieses Films zu sprechen. Er war nämlich verantwortlich für die Kameraführung und die Kameraarbeit. Damit zum Thema vertikale Migration. In Peter Sloterdijk's Studien zu Weltfremdheit und Gnosis, die in einer Zeit entstanden sind, in der wir noch sehr eng an freundschaftlichen Kontakt gepflegt haben, spielt eine existenziale Differenz, so hat er das genannt, im Unterschied zur transzendentalen Differenz Immanuel Kants oder zur ontologischen Differenz Martin Heideggers eine Schlüsselrolle. Nämlich die Differenz zwischen in der Welt und von der Welt. Da klingeln vielleicht einige Erinnerungen an Evangelien auf. Tatsächlich ist diese Differenz im Kern der Abschiedsreden Jesu, womit ich nun weiß, Gott hier keinen Ausschluss markieren will, im Johannes-Evangelium verankert. Das heißt, wir sind in der Welt, aber nicht von der Welt. Diese Differenz hat ihr Gewicht allerdings schon viel früher erlangt, Differenz hat ihr Gewicht allerdings schon viel früher erlangt als das Evangelium, spätestens seit den Zeiten vor der Zeitrechnung, in denen Geburt und Tod schon als Passagen einer Reise imaginiert und metaphorisiert wurden. Darauf deuten etwa Geburts- oder Bestattungsrituale hin. Noch die Taufformel der valentinianischen Gnosis, so ungefähr im ersten bis maximal zweiten Jahrhundert nach Christus, lautete, es waren lauter Fragen, eine Taufformel, die in Gestalt von Fragen formuliert sind, kann man ja irgendwie auch heute noch ein Stück weit mögen. Wer waren wir, heißt es da? Was sind wir geworden? Wo waren wir? Wohin sind wir geworfen? Wohin eilen wir? Wovon sind wir befreit? Was ist Geburt? Was ist Wiedergeburt? Mit solchen Fragen hat auch Ernst Bloch seine enzyklopädischen Studien zum Prinzip Hoffnung eröffnet. Prinzip Hoffnung fängt an mit den Fragen, wer sind wir, wo kommen wir her, wohin gehen wir? Das ist auch fast wie ein Zitat dieser älteren Taufformel. In diesen Fragen spiegelt sich die Entdeckung der Zeit als Horizont existenzieller Mobilität, die sich nicht einfach auf Herkunft und Zukunft bezieht, sondern auch auf die Räume vor der Geburt und nach dem Tod. Wie auch immer. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Solche Fragen können natürlich auch Grenzbeamte stellen, wie Olga Tokarczuk in ihrem schönen Buch Unrast vermerkt und beobachtet hat. Ich zitiere, woher bist du? Woher kommst du gerade? Wohin fährst du? Diese Fragen, so argumentiert Tokarczuk danach, zeichnen ein Wegkreuz. Denn die erste Frage stellt die senkrechte Achse dar. Die nächsten beiden die waagrechte. Woher bist du? ist also für sie eine Frage, die was mit der Senkrechtenachse zu tun hat. So können die Reisenden, schreibt sie nachher, eine Art Koordinatensystem erstellen, um zu versuchen, einander auf dieser Karte in diesem Koordinatenkreuz zu platzieren. Erlauben Sie mir einen kleinen Umweg. Im Jahr 1992 hat der in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 2023 verstorbene französische Ethnologe Marc Auger, langjähriger Direktor der Pariser École d'Hautetude en sciences sociales, seine Theorie der Nichtorte, »non lieu«, vorgelegt. Als Nichtorte verstand Auger funktionale Räume wie Supermärkte, Autobahnen, Lager für Geflüchtete, Bahnhöfe, Hotels oder Flughäfen, zumeist an der diffusen Grenze zwischen privaten und öffentlichen Räumen. Er charakterisierte sie als Räume, die keine Geschichte, keine Beziehungen, keine Zugehörigkeiten und Identitäten stiften, sondern bloß Einsamkeit und Ähnlichkeit. Der traditionelle, anthropologische Ort, so nennt er das, erzeuge dagegen historische Kontexte und soziale Relationen. Er sei der Ort, den die Indigenen einnehmen, die dort leben und arbeiten, die ihn verteidigen, so schreibt er, seine herausragenden Zeichen bestimmen, seine Grenzen bewachen, aber auch nach den Spuren der unterirdischen oder himmlischen Mächte der Ahnen oder Geister fahnden, die ihn bevölkern und seine innerste Geografie beleben. Hier haben Sie wieder den senkrechten Bezug, also himmlische Mächte, Unterwelten werden hier thematisiert. Und weil ich Martin Sturm gerade ansehe, darf ich nur daran erinnern, dass wir vor dem Höhenrausch, vor den vielen Höhenrauschen auch einen Tiefenrausch in Linz dank deiner Organisationsarbeit erleben durften. So als wäre, nochmal zurückgesprungen ins Zitat von Ogi, so als wäre das kleine Teil Menschheit, das Innern, nämlich den himmlischen Mächten und den Unterwelten, an diesem Ort huldigt und opfert zugleich die Quintessenz, als gäbe es Humanität, die dieses Namens würdig ist, einzig am Ort des Kultes, den man ihr weiht. Zitat Ende. Die Differenz dieser beiden Ortstypen, was Oschi anthropologische Orte und eben Nicht-Orte nennt, lässt sich ableiten aus der Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Migration. Horizontale Migration bezeichnet alle Arten der Bewegung, unabhängig davon, ob sie freiwillig oder unfreiwillig angetreten werden. Als Abenteuer und Entdeckungsreise, Urlaubsfahrt oder in Flucht und Vertreibung und Situationen, die wir in den letzten Jahren allzu häufig erlebt haben. Denn gleich mehr als Zeugen als als Beteiligte. Charakteristisch ist, dass die Reise von einem Ort ausgeht, um einen anderen Ort zu erreichen. Vertikale Migration bezeichnet dagegen die Reise als Metapher für das gesamte Leben, mit einer Ankunft durch die Geburt, einer Abreise durch den Tod. John Berger hat den anthropologischen Ort O'Shea seinen Schnittpunkt zwischen den Routen der horizontalen und vertikalen Migration beschrieben. Ehemals sei das Zentrum der Welt ein Ort gewesen, so Berger, an dem eine vertikale Linie, und das ist jetzt wörtlich zitiert, und eine horizontale Linie sich kreuzten. Die vertikale Linie war ein Pfad, der zum Himmel hinauf und in die Unterwelt hinab führte. Die horizontale Linie stellte den weltlichen Verkehr dar, alle nur möglichen Straßen, die über die Erde zu anderen Orten führten. Damit war man zu Hause, den Göttern im Himmel und den Toten in der Unterwelt am nächsten. den Göttern im Himmel und den Toten in der Unterwelt am nächsten. Diese Nähe versprach Zugang zu beiden und gleichzeitig war man am Ausgangspunkt und hoffentlich dem der Heimkehr von allen irdischen Reisen. Zitat Ende. Schombergers Perspektive schließt eine konservative Wahrnehmung der Nicht-Orte, von denen Auger spricht, aus. Etwa die Idealisierung einer Heimat oder die implizite Aufforderung, Nicht-Orte zu meiden. Denn die anthropologischen Orte, an denen wir zur Welt gekommen sind, definieren eine kontingente Zugehörigkeit, die uns zugefallen ist, auch wenn sie fortan in vielen Identitäts- und Reisedokumenten verzeichnet wird. Kaum ein Geflüchteter kommt ins Land ohne Geburtsort, Staatsbürgerschaft und Geburtsdatum und falls er die nötigen Dokumente nicht mitführt, wird ihm zum Beispiel ein Geburtsdatum zugewiesen, meistens der 1. Januar eines geschätzten Jahres. 1. Januar eines geschätzten Jahres. In seinen Reflexionen nach der Flucht bemerkt Ilya Torjanov, selbst so etwas wie ein Weltensammler, das war der Titel seines berühmtesten Romans, in diesen Reflexionen, ein halbes Leben lang hat er, er spricht von sich da immer in der dritten Person, ein bisschen so wie Canetti das auch in seinen Aufzeichnungen praktiziert und mit Canetti unterhält er ohnehin eine sehr enge Beziehung, denn auch Canetti ist in Bulgarien bewohnt und hat in vielen Ländern gelebt und gereist. Ein halbes Leben lang hat er den Status staatenlos inne. Das ist keine Nebensächlichkeit, keine Formalität, keine bürokratische Petitesse. Bei jeder Einreise warnt er die Mitreisenden hinter ihm, sie mögen sich in eine andere Schlange einreihen. Bei jeder Passkontrolle erlebt er, wie sehr der Staat dem Staatenlosen misstraut. Er ist eine Provokation für die feinsäuberliche Ordnung des Staates. Eigentlich darf es ihn nicht geben. Und Ilya setzt fort, es hat ungezählte Stunden des Nachdenkens bedurft, bis der Staatenlose die Widersprüche seiner bürokratischen Identität aufgelöst hat. Ich bin mein eigener Staat. Wenn ihm das zu gewagt erscheint, behilft er sich mit einer bescheidenen Alternative. Ich bin entweder niemand oder eine Nation. Dabei sind wir doch alle Immigranten. So hat es Wilhelm Reich in seiner wütenden, antinationalistischen, heute wieder hochaktuellen Rede an den kleinen Mann, vielleicht würde man sie heute ein bisschen anders und höflicher adressieren, aus dem Jahr 1946 ausgedrückt. Das ist ein Lieblingszitat von mir, deshalb verzeihen Sie mir, wenn ich es Ihnen nochmal vorlese. Halt, haltet den Dieb, er ist ein Fremder, ein Eingewanderter. Ich aber bin ein Deutscher, ein Amerikaner, ein Däne, ein Norweger. Ach, geifere nicht, kleiner Mann. Du bist und bleibst der ewige Ein- und Auswanderer. Du bist ganz zufällig in diese Welt eingewandert und wirst lautlos wieder aus ihr vergehen. So bösartig, aber auch so direkt und präzis hat das Wilhelm Reich ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgedrückt. Die Nicht-Orte könnten folglich auch begrüßt werden als mobile Transitzonen, als architektonische Verkörperungen der Befreiung von Täuschungen der Identität, der Genealogie, der Geschichte, der sozialen Zugehörigkeit, kurzum als Durchgangsorte einer Passage, die den Ankünften und Abschieden, Trauer und Sehnsucht, eine emanzipatorische Gestalt, eine bewegliche Gestalt verleiht. Wer geboren wird, kommt auf die Welt, so sagen wir. Doch woher kommt das Geborene? Bevor sie zur Welt gekommen war, war sie da eine Idee? Fragt Clarice Lispector, eine meiner Lieblingsautorinnen. Bevor sie zur Welt gekommen war, war sie da tot? Und nachdem sie zur Welt gekommen war, würde sie da sterben? Und jetzt kommt ein Satz, der völlig verblüffend ist und trotzdem diese Reflexion und Fragen abschließt. Lispector schreibt, was für ein feines Scheibchen Wassermelone. Das ist ein Bild, das muss man sich zergehen lassen im Mund, wie eine feine Scheibchen Wassermelone auch im Mund zergehen können. Woher kommen die Babys? So fragen schon die kleinsten Kinder. Ihr erstes Problem, stellt Freud fest, betrifft nicht die Frage des Geschlechtsunterschiedes, sondern das Rätsel. Woher kommen die Kinder, vor allem die Geschwister? Und was antworten wir den Kindern, wenn sie nach ihren verstorbenen Geschwistern oder Großeltern fragen? Wir sagen, sie sind im Himmel, obwohl die Kinder womöglich gerade gesehen haben, wie Särge oder Urnen in die Erde versenkt wurden. Ob Himmel oder Unterwelt, Ahnen, Engel oder Klapperstörche, stets scheint die Lebensreise eben einer vertikalen Route zu folgen. Neben der Idealisierung des Todes als Schlaf, die auf vielen Grabinschriften beschoren wird, vielleicht auch als apotopäische Formel, die Trauer, Angst und Schuldgefühle der Hinterbliebenen mildern soll, sind es die Vorstellungen vom Tod als Reise, die verschiedene Kulturen und Epochen inspiriert haben. Davon zeugen bereits vor der Durchsetzung der Schriften, dafür zeugen beispielsweise die Grabbeigaben, Nahrung, Waffen, Münzen, die als Reiseutensilien der Toten gedeutet werden können. Und man könnte an dieser Stelle, um die Geburt nicht zu kurz kommen zu lassen, liebe Julia, man könnte an dieser Stelle auch sagen, auch die Kinder kommen mit Gepäck auf die Welt. Also nicht umsonst erweisen zahlreiche Kulturen den Geborenen durch besondere Achtsamkeit auf die Plazenta, die man ja als eine Art von Rucksack beschreiben könnte. Das Kind hat sozusagen einen Rucksack und die Bänder, mit denen der Rucksack normalerweise an unseren Schultern befestigt wird, bilden die Nabelschnur und man muss die Nabelschnur sogar durchtrennen, um sie auf die Welt zu bringen, aber gleichzeitig auch darauf achten, dass die Plazenta angemessen ebenfalls zur Welt kommen kann, um dann ihrerseits unter einem Baum oder an anderen Stelle passend vergraben zu werden. Manche Geburts- und Bestattungsrituale inszenieren Übergänge und Passagen und nicht wenige Texte von altägyptischen Pyramidentexten bis zum tibetischen Totenbuch oder auch natürlich zu zeitgenössischen Todesanzeigen und Ratgebern scheinen wie Reisebegleiter aufzutreten. Es gibt im Übrigen tatsächlich Bücher, die so heißen. Also es gibt Hinweise zur Sterbehilfe, die eben unter dem Titel des Reisebegleiters verkauft werden. Noch die Gegenwartsliteratur bestärkt solche scheinbar widersinnigen Assoziationen. bestärkt solche scheinbar widersinnigen Assoziationen. In Middlesex, dem 2003 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman von Jeffrey Eugenides, studiert die steinalte Desdemona, eine seiner wichtigsten Protagonistinnen in diesem Roman, Kataloge von Särgen und Urnen wie, Zitat, Reiseprospekte. Also das ist sozusagen, sie guckt sich diese Kataloge an, überlegt sich, wie mag sie diese Reise antreten. Francesca Melandris, großartiger Roman, San Giacusto aus dem Jahr 2017, eine ganz dramatische und komplexe Fluchtgeschichte in Italien, beginnt mit einem Nachruf auf Attilio Profeti, der dann natürlich im Roman wieder aufersteht und sein Leben führt, in dem es heißt, unter uns Lebende kannst du nicht zurückkehren, wer stirbt, ist ein Flüchtling, ein Asylsuchender, sehen Sie plötzlich den Zusammenhang, der einen Ablehnungsbescheid bekommen hat für den Rest der Ewigkeit. Und einer der letzten Einträge in Masaiko Shimadas 1991 in Tokio publizierter Novelle, Miire Nina Romade, Tagebuch eines Mannes, der sich zum Sterben durch Verhungern in einen Wald zurückgezogen hat, lautet 52. Tag, 27. September. Ich muss einen Brief an die Einreisebehörde der anderen Welt schreiben. Meine Seele beabsichtigt, in zwei oder drei Tagen einzutreffen. Bitte nehmen Sie sie freundlich auf. Peter Lichter hat die von Richard Thäler übersetzte Novelle durchgängig als Begleittext für seinen ebenfalls großartigen Film Das Summern der Insekten, Bericht einer Mumie von 2009 verwendet. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen. Aber damit schon zum zweiten Teil meines Vortrags Curriculum Vitae. Auch zwischen Geburt und Tod bleiben die Menschen Reisende, homines via torus. Unser Leben gleicht einer Reise und so scheint mir die Reise weniger ein Abenteuer und Ausflug in ungewöhnliche Bereiche zu sein, als vielmehr ein konzentriertes Abbild unserer Existenz, schreibt Annemarie Schwarzenbach, die im Alter von 34 Jahren am 15. November 1942, also heute vor exakt 81 Jahren, verstorbene Schweizer Journalistin, Schriftstellerin, Fotografin und Reisende auf fast allen Kontinenten. Wenn Monika Bichler hier wäre, sie ist da, würde ich dich sofort daran erinnern, welche große Freude du mir mit dem Geschenk deines Annemarie-Schwarzenbach-Objekts vor einer Reihe von Monaten gemacht hast. Ich halte es nach wie vor in Ehren, denn Monika Bichler hat sich intensiver auch mit den fast vergessenen großen weiblichen Reisenden auseinandergesetzt. Normal kennt man natürlich immer die großen Weltensammler, aber es gibt eben auch Weltensammlerinnen und zu ihnen zählt etwa Isabel Eberhard oder Alexander David Nehl oder eben auch Annemarie Schwarzenbach, die tragisch genug dann bei einem Fahrradunfall in der Schweiz und nicht in Afghanistan und nicht in der Sahara und nicht in irgendwelchen großen persischen Landschaften und Bergen ums Leben gekommen ist. Michael Roos, ebenfalls ein unentwickter Reisender, bemerkt in einem Gespräch mit Uwe Wolubrich von 2018, abgedruckt im Anhang zu seiner 2020 erschienenen Melancholie des Reisens, das Reisen ist die höchste Form der Lebendigkeit, denn das Leben selbst ist der Reise Lebensreise. Nicht umsonst wird die Lebensreise gleichsam rhythmisch gestaltet, in den seit Arnold von Kenneps berühmter Untersuchung aus dem Jahr 1908 sogenannten Ritt de Passage. Der französische Journalist und Übersetzer Arnold von Kennep war übrigens ein Außenseiter, angefeindet vom akademischen Establishment der Soziologischen Schule Emil Dürkheims. Ich habe mir immer gedacht, vielleicht war es ihm gerade darum möglich, die rituellen Prozesse des Eintritts und des Austritts und die Quälereien bei der Passage so genau zu beobachten und zu analysieren. Nach seiner Wahrnehmung bestehen die meisten Rite Passage aus drei Phasen. Einer Phase der Trennung, des Übergangs, also der eigentlichen Passage, und einer ehrlichen Angliederung. Rite Passage wurden in buchstäblicher oder übertragener Gestalt in allen Situationen praktiziert, in denen es um soziale Trennungen, Übergänge und neue Angliederungen ging, also um Geburteninitiationen, Prüfungen, kennen Sie alle von den Master- und PhD-Abschlüssen, aber natürlich auch schon von den Maturafeiern, Hochzeiten, Pensionierungen oder Todesfälle. Sie sind aber nicht zuletzt, wie sich ein Beispiel der Toten Riten, aber eben auch der Initiationen deutlich beobachten lässt, Reiserituale. Dabei wurde erst in den Jahrtausenden nach der sogenannten Neolithischen Revolution, der Titel Revolution passt nicht gut, weil es geht um Prozesse, die Jahrtausende gedauert haben und nicht nur eben ein paar Tage oder ein paar Monate. Davor zogen Jäger und Jägerinnen, Sammler und Sammlerinnen durch ein dünn besiedeltes Territorium, in regem Austausch übrigens mit anderen Gruppen, ihnen verdeutlichte sich die Differenz zwischen Stillstand und Mobilität, Ihnen verdeutlichte sich die Differenz zwischen Stillstand und Mobilität einerseits durch den jahreszeitlich bedingten Wechsel zwischen Wanderschaft und stationären Aufenthalten in Höhlen oder Lagerstätten, andererseits durch den häufigen Umschlag der Bewegungsformen selbst. Die Jagd konnte sich rasch in die Ruhe des Wartens verwandeln, während die Flucht mitunter in einer Art von Todstellreflex erstarrte. Jagd und Flucht mochten darüber hinaus rasch ineinander übergehen. Die Tierherden, die gerade noch gehetzt wurden, beliebte Methode vor Entdeckung und Nutzbarmachung des Feuers, wendeten sich womöglich plötzlich gegen ihre Verfolger und flüchtende Menschengruppen lernten irgendwann, dass die auf der Flucht unbeabsichtigt abgetretenen Steine auch planmäßig gerollt oder geworfen werden konnten. Jäger und Jägerinnen, Sammler und Sammlerinnen reisten also nicht wirklich, sie waren stets zugleich unterwegs und doch zu Hause. Sie nahmen gleichsam ihre Heimat unter Anführungszeichen mit. Nicht umsonst waren die eurasischen Hirtennomaden davon überzeugt, ihre Zeltstangen als kultische Mittelpunkte an den jeweiligen Standorten aufrichten zu können. Der Himmel erschien ihnen wie ein aufgespanntes Zelt über dem Boden der Erde, das gestützt wird von einer Weltsäule oder von einem Lebensbaum, der als vertikale Achse wiederum Himmel und Erde verbindet. Wir sind schon wieder bei der vertikalen Migration. Gereist im strengen Sinn wurde allenfalls, da aber dann sehr häufig und zahlreich, in Visionen und Träumen. Noch die Ureinwohnerinnen und Ureinwohner des australischen Kontinents reisen nicht wie wir in der Horizontale, sie bewegen sich vielmehr in einer Art von Traumzeit, in der sie auf zahlreichen, häufig gesungenen Wegen die mythische Erschaffung der Welt durch ihre Ahnen wiederholen. Bruce Chatwin hat das in seinem berühmten Buch über die Songlines, über die Traumpfade, wunderbar ausführlich dargestellt. Ich war ganz vergnügt, als ich vor kurzem im unveröffentlichten Nachlass von Elias Canetti geordnet nach Personen, und man findet keine Person, zu denen er nette Dinge gesagt hat, er war schon auch ein ziemlich giftiger Zeitgenosse, aber wenn das Chatwin-Kapitel, wenn man das aufmacht, er hat ihn offenbar mal kennengelernt, dann schreibt er, er ist froh, dass er so alt geworden ist, um dieses Buch wenigstens lesen zu dürfen. Also das war ihm schon sozusagen Trost im fortgeschrittenen Alter. Gereist wurde also erst, nachdem die Menschen sesshaft geworden waren, anders gesagt, nachdem sie Städte, Häuser, Türen und Schwellen errichtet hatten. Erst seit damals entwickelte sich eine Funktionsordnung des Reisens, die an die Rite Passage erinnert, ein Arrangement, gebildet aus Abreise, Passage, Ankunft am fremden Ort und irgendwann Heimkehr. So reiste etwa schon Odysseus. Dem Abschied von Ithaka und seiner Frau Penelope folgten viele Jahre des Kriegs und der gefährlichen Seefahrten, der Ankunft auf verschiedenen Inseln, schließlich der Rückkehr und Ermordung der gefräßigen Freier, wobei Odysseus gleichermaßen zu Hause und nicht zu Hause ausgerechnet den strategisch günstigen Ort der Schwelle besetzte. Wie heißt es in der Odyssee? Jetzt aber riss sich der einfallsreiche Odysseus die Fetzen ab und sprang auf die mächtige Schwelle mit Bogen und Köcher voll von Pfeilen. Direkt auf der Schwelle verwandelte sich also der scheinbare Bettler wieder in den Herrn des Hauses, der Gast in den Gastgeber, der freilich zuerst die ungebetenen Gäste erschlagen musste. Wer reist, weiß nicht genau, wo er ankommen und wohin er zurückkehren wird. Die Ordnung des Reisens setzt voraus, dass Menschen sesshaft leben, sodass ihre Mobilität ritualisiert werden kann als Unterbrechung, als Störung von Gewohnheiten, die sich schon etymologisch mit dem Wohnen assoziieren. Die Praxis des Reisens inspirierte zahlreiche Rituale, weil die Rückkehr noch vor wenigen Jahrhunderten kaum sicherer erwartet werden konnte als zu Zeiten der Odyssee oder auch des Exodus der Hebräerinnen und Hebräer. Reisen waren Abenteuer, vor deren Antritt manchmal das Haus verkauft wurde. Die Rituale des Abschieds wurden durchaus im Bewusstsein der Möglichkeit gefeiert, einander nicht mehr wiederzusehen. Die Zeit der Passage selbst dauerte lange, auch wenn der Reisende bloß Italien erreichen wollte und gar nicht China oder die Südsee. Wenn Sie mal das Reisetagebuch von Michel de Montaigne lesen, werden Sie feststellen, dass er für seine Reise nach Rom ein Jahr gebraucht hat. Er ist allerdings zu Pferd gereist und war nicht so schnell unterwegs, wie wir das gewöhnlich sind. wie wir das gewöhnlich sind. Für keine Ankunft, sei es in der Fremde oder bei der Rückkehr nach Hause, konnte schließlich vorausgesagt werden, was den Reisenden erwartete. Vielleicht wurde auch darunter Tod so häufig als Reise metaphorisiert und rituell inszeniert, weil auch die wirklichen Reisen nicht selten mit dem Tod endeten. Erst moderne Reisen zeichnen sich aus durch eine Relativierung dieser rituellen Ordnung von Abreise, Passage, Ankunft oder Heimkehr. Heute können wir verreisen und schon auf den ersten Metern das Mobiltelefon in Betrieb nehmen, um mit Partnern und Partnerinnen, Kindern, Freundinnen oder Freunden zu plaudern. Die Abreisenden müssen sich nicht mehr wirklich trennen. Auch ihre Passagen werden möglichst so arrangiert, dass sie unauffällig verlaufen. Schnell, bequem, pünktlich ausgenommen vielleicht die deutsche Bahn. Manchmal merken die Reisenden gar nicht mehr, welche Länder sie auf ihren Fahrten durchqueren oder überschliegen. Zuletzt erfolgt eine Ankunft, die das Fremde an das eigene assimiliert, oft so perfekt, dass jede Erfahrung einer Differenz vermieden werden kann. Was es zu Hause gibt, soll es auch in der Fremde geben. Im Idealfall muss kein Gepäck mehr mitgenommen werden. Vom Aperitif bis zur Zahnbürste oder zum Mantel findet sich alles auch am Zielort der Reise. Diese Erwartung, so bemerkt Eric J. Leed in seiner Kulturgeschichte des Reisens, ist typisch für die weltweite Gesellschaft von Reisenden, in der wir leben. Sie ist durchaus real und keine bloße Metapher und sie ist Teil unserer Identität und unserer Beziehungen. Reisen, früher einmal eine seltene Erfahrung, ein Ausnahmezustand, ist inzwischen zur reinen Routine geworden. Es gehört nicht mehr dazu, als sich ins Auto zu setzen und einfach ein Stückchen über seine normalen Anlaufpunkte hinauszufahren. Und doch sind etwa die Hallen eines Flughafens, dieses seltsamen Nichtorts, zum Zentrum zeitgenössischer Rituale aufgestiegen, Rituale des Abschieds, des Wiedersehens, Rituale der Kontrolle von der Überprüfung der Reisedokumente bis zur Durchleuchtung des Gepäcks, Rituale der Trennung, der Passage durch Gänge und Kabinen und der Angliederung, die vielleicht gerade in ihrer monumentalen Sichtbarkeit durch Glaswände ihre ursprüngliche Dramatik nicht verloren haben. Sichtbarkeit durch Glaswände ihre ursprüngliche Dramatik nicht verloren haben. Auch wer heute reist, kann noch ansatzweise verstehen, was Albert Camus meinte, als er in sein Tagebuch schrieb, Zitat, was den Wert des Reisens ausmacht, ist die Angst. Denn in einem gewissen Augenblick, sofern von unserer Heimat, von unserer Sprache, überfällt uns eine unbestimmte Angst und wir empfinden unwillkürlich das Verlangen, in den Schutz unserer alten Gewohnheiten zurückzukehren. Das ist das augenfälligste Ergebnis des Reises. In diesem Moment fiebern wir und sind zugleich durchlässig. Der geringste Stoß erschüttert uns bis auf den Grund unseres Wesens. Das Leben als Reise. Die historischen und aktuellen Effekte dieser Metaphorik hat der Kunsthistoriker und Datenanalytiker Maximilian Schich in seinen Netzwerkforschungen intensiv untersucht. Sucht. Schich war Professor für Arts and Technology an der University of Texas in Dallas und wirkt inzwischen seit 2020 als Professor für Cultural Data Analytics an der Tallinn University in Estland. Promoviert wurde Schich an meiner früheren Wirkungsstätte der Humboldt-Universität Berlin mit einer Dissertation zu Reception and Visual Citation as Complex Networks bei Horst Bredekamp und Arnold Nesselrath. Und Nesselrath ist ein Spezialist natürlich auch für Daten, für Listen und für die Ordnung vieler Artefakte. Im Jahr 2014 publizierte Schich gemeinsam mit Xiao Ming Song, Yong-Yo Lan, Alexander Mirsky, Mauro Martino, Albert Laszlo Barabasi und Dirk Helbing, das verweist ihm auf ein prominentes Journal, wenn es so viele Autoren gibt, im Journal Science, eine quantitative sozialwissenschaftliche Studie unter dem Titel A Network Framework of Cultural History. Im Abstract zu diesem Essay, zu diesem Text, heißt es, the emerging processes driving cultural history are a product of complex interactions among large numbers of individuals determined by difficult-to-quantify historical conditions. To characterize these processes, we have reconstructed aggregate intellectual mobility over two millennia through the birth and death locations of more than 150.000 individuals. Muss man sich vorstellen, 150.000 Individuen, deren Geburts- und Sterbeorte man erheben kann. Das ist Gott sei Dank noch das Leichteste an der Arbeit an Birka Fien, weil man natürlich Geburts- und Todesaufzeichnungen leichter findet. Aber immerhin für 2000 Jahre. The tools of network and complexity theory were then used to identify characteristic statistical patterns and determine the cultural and historical relevance of deviations. The resulting network of location provides a macroscopic perspective of cultural history, which helps us to retrace cultural narratives of Europe and North America, this is the einzige Einschränkung, using large-scale visualization and quantitative dynamical tools and to derive historical trends of cultural centers beyond the scope of specific events or narrow time intervals. Methodisch verfolgen die Autoren und Autorinnen eine Kombination von makroskopischen Datenanalysen, wie wir sie kennen und wie sie notwendig sind, um die Ausbreitung von solchen in den Verlauf von kriegerischen Konflikten, die Entwicklung von Handelswegen, von Reisen oder von urbanen Metropolen zu verstehen und auf der anderen Seite von biografischen auf einzelne, zumeist bekanntere, um nicht zu sagen herausragende Individuen zu beziehen. Als Forschungsziel fungiert die Hypothese, dass die Visualisierungen von Birth-Death-Network-Dynamics ein Metamarrativ der Kulturgeschichte sichtbar werden lassen. Das finde ich einen ganz interessanten und wichtigen Ansatz. Und wenn man sich diese Karten anschaut, auf denen 150.000 Wege von Geburts- zu Sterbeorten sind, sieht man eine ganze Menge. Ich hätte Ihnen das gern vorgeführt, aber die Zeit reicht schon nicht mehr ganz für diesen Vortrag. Die Kohorten künftiger Historiker und Historikerinnen werden es leichter haben. Die Ansätze der jetzt aus Zeitgründen nur knapp skizzierten makroskopischen Forschungen von Maximilian Schichs und seiner Kollegen und Kolleginnen rücken die digitale Revolution beispielsweise den längst unüberschaubar gewordenen biografischen Fundus des Internets. Ebenso in den Mittelpunkt wie den durch die Digitalisierung erheblich beschleunigten Aufstieg der Lebensreiseberichte, die wir unter dem Titel Curricula Vitae kennen. Zu Beginn meiner eigenen Studienzeit in Wien im Wintersemester 197071, waren Bewerbungen mit Lebenslauf noch längst nicht so üblich wie heute. Jüngere Kollegen und Kolleginnen verschicken inzwischen häufig mehr als 20 Bewerbungen im Jahr, jeweils mit aktualisierten Curricula Vitae. Doch nicht nur im akademischen oder im künstlerischen Feld gehören die Curricula Vitae inzwischen zum gewohnten Alltag, sondern auch in der Wirtschaft. Ja, selbst auf der Suche nach Jobs in fast allen Branchen. Wir kennen alle die regelmäßig vor den abendlichen Nachrichtensendungen ausgestrahlten Werbeclips, mit denen diverse IT-Firmen ihre Unterstützung von Bewerbungen, die machen wirklich Werbung für Bewerbungen, durch digital erstellte Lebensläufe an Preisen. So, Ingeld erklärt Indizikennen, das sieht man alle Augenblick im Fernsehen. Mit der Aufstiegsgeschichte des Curriculum Vitae hat sich Stefan Strunz intensiv beschäftigt. Nach mehrjähriger Mitgliedschaft im DFG, graduierten Kollege Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen, wurde er 2020 ebenfalls an der Berliner Humboldt-Universität promoviert bei Josef Vogel und Ethel Mataradam, die auch dieses graduierten Kollege gegründet haben. 2022 wurde dann seine Dissertation unter dem Titel Lebenslauf und Bürokratie – kleine Formen der preußischen Personalverwaltung 1770 bis 1848 veröffentlicht. Die Einleitung beginnt mit folgenden Sätzen. Von der Ulauer Straße Nummer 1098 in Breslau schickt ein junger Rechtsreferendar im November 1818 ein Gesuch an die Berliner Oberexaminationskommission. Seine Bewerbung um Zulassung zum Assessorexamen enthält im Anhang ein Dokument, das die Erzählung eines früheren Lebenslaufs enthält, nämlich seines Lebenslaufs natürlich. Und in der als Lebenslauf betitelten Anlage erzählt der Prüfungskandidat auf vier halbbrüchig beschriebenen Seiten kurz und knapp die Geschichte seines beruflichen Werdegangs. Der Bewerber hieß, manche von Ihnen werden es vielleicht wissen, Josef von Eichendorff. Und das Gesuch von 1818 war weder das erste noch das einzige Mal bestrunzversichert, mit dem der Autor sein Leben administrativen Agenturen präsentierte. Dennoch sei die Geschichte des Lebenslaufs als Bewerbungsdokument, selbst in den Sozialwissenschaften, die sich noch am stärksten darum gekümmert haben, noch weitgehend ungeschöpft. Offen bleibt daher an dieser Stelle die Frage, welche semantischen Verschiebungen von der Navigatio-Vite in der Antike, die noch an die Irrfahrten des Odysseus erinnern mochte, zum Curriculum-Vite geführt haben, das heißt zum Wettrennen, womöglich gar zum Hürdenlauf, von dem so viele jüngere Menschen erzählen. Offen bleibt auch die Frage nach dem, Zitat so heißt ein Kapitel in der Dissertation von Stephan Strunz, nach dem, Zitat so heißt ein Kapitel in der Dissertation von Stefan Strunz, dem Tod als Geburtshelfer, nämlich der Entstehung des Lebenslaufs aus der Leichenpredigt im 18. Jahrhundert, da hat man das geübt zum ersten Mal, die Strunz ausführlich kommentiert. Ich selbst habe übrigens gerade meine Lebensläufe, die ich nur mehr ausnahmsweise für Bewerbungen benötigen werde, in die Vergangenheitsform transformiert und man beobachtet natürlich an dieser Stelle sofort, was es eigentlich heißt, einen Lebenslauf dann zum Material für die Leichenpredigt vorzubereiten. Ich komme zum dritten Abschnitt meiner Vorlesung. Es wird nicht mehr so lang, das ist ein kürzerer Abschnitt. Er trägt den schlichten Titel Stücks. Wie zu Beginn meiner Abschiedsvorlesung angekündigt, komme ich nochmals kurz zurück auf Peter Lechtes Film vom Summern der Insekten. Sie erinnern sich, der Film visualisiert übrigens durchwegs, was ziemlich ungewöhnlich ist aus der Perspektive subjektiver Kamera, das langsame Sterben eines Mannes, der sich im Wald verhungern lässt. Mannes, der sich im Wald verhungern lässt. Aus den vorgelesenen Tagebucheinträgen des Namenlosen in einer Plastikhütte erfahren wir, dass er Dante's Inferno und Beckett's Malone Dice liest und dass er Musik von Johann Sebastian Bach im Radio hört. Seltsam. Die Bücher und die Musik repräsentieren eher einen europäischen, weniger einen japanischen Bildungskanon, ganz abgesehen davon, dass sich schwer vorstellen lässt, wie jemand sein eigenes Sterben aus Geltenden mit Dante und Beckett begleiten mag. Am 20. September, also sieben Tage vor dieser letzten Bitte an die Einreisebehörde der anderen Welt, beginnt der Unbekannte eine Unterhaltung mit einer Frau aus dem Zwischenreich seiner Halluzinationen. Kommt nun ein etwas längeres Zitat. Aus dem Nichts stand plötzlich eine junge Frau am Kopfende meines Bettes. Sie trug eine zerrissene Bluse, löchrige Strümpfe und einen schmutzigen Rock. Doch mittlerweile kam ich nichts mehr erschrecken. Ich dachte, sie sei aus der anderen Welt gekommen, um mich abzuholen, streckte die Hand entgegen und sagte, nimm mich bitte mit, egal wohin. Ich kann nirgendwo hingehen, antwortete die Frau ungerührt. Du kommst doch von der anderen Welt, nicht wahr? Ich war noch nie dort. Dann lebst du also. Ich kann es nicht wirklich sagen. Sie wandte mir ihr trauriges Profil zu und begann, ihre Geschichte zu erzählen. Vor langer Zeit bin ich im Wald vergewaltigt und ermordet worden. Ich dachte, ich würde in die andere Welt gebracht, aber wie lange ich auch wartete, es kam niemand, um mich abzuholen. Da beschloss ich, selbst hinzugehen. Irgendwie schaffte ich es bis zum Ufer des Stücks und bestieg ein Boot. Willst du damit sagen, du bist gar nicht drüben angekommen? Ich war der einzige Fahrgast und der Fährmann wollte mich nicht aussteigen lassen. Seiner Meinung nach gibt es kein Drüben. Aber was geschieht denn mit den Toten? Sind sie verdammt ewig umher zu irren, wenn es kein Totenreich gibt? Zuerst dachte ich, der Fährmann belüge mich. Doch er blieb hartnäckig, es gäbe kein drüben. Und was machst du denn jetzt? Der Fährmann nimmt mich mit an ganz verschiedene Orte, zum Kap der guten Hoffnung oder in den Antarktis, auch ans Tote Meer und an den Baikalsee. Er ist wirklich gut zu mir und so leben wir jetzt zusammen. Und wie bist du hierher gekommen? Via Amazonas. Und wo ist dein Begleiter? Dort drüben. Die Frau zeigte auf ein kleines, schmuddeliges Boot, das im Sumpf von meiner Hütte trieb. Was soll ich tun? Ohne mir zu antworten, verließ sie die Hütte. Als ich ihr nachrief, hey, warte, sprang das Boot auf und davon. Als ich wieder zu mir kam und genauer hinsah, bemerkte ich, dass das, was ich für ein Boot gehalten hatte, ein Hase war, unseliges Hasenvieh. Vielleicht wird dies meine letzte Nacht. Auch die Navigatio Mortis findet also kein Ziel. Die Reise hört niemals auf, doch vielleicht dürfen wir hoffen, einem Fährmann oder einer Fährfrau zu begegnen. Irgendwie schaffte ich es bis zum Ufer des Stücks. Dieser Satz referiert neuerlich keine Erfahrung an japanischer Traditionen, sondern die altgriechische Mythologie. Sie kennt die Styx, im Griechischen ist das weiblichen Geschlechts, als Fluss der Unterwelt, als Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem Hades. Der Fährmann Charon muss die Totenseelen über den Fluss transportieren. Für diesen Dienst erhält er eine Silbermünze, den Obolus, der den Toten vor der Bestattung unter die Zunge gelegt wurde. Stücks, so lautet auch der Titel eines Films des österreichischen Regisseurs Wolfgang Fischer. Der Film erzählt von einer düsteren Reise, einer Lebensreise zwischen Tod und Überleben im südlichen Atlantik. Im Mittelpunkt steht die Notärztin Rieke, gespielt von Susanne Wolf. Im Mittelpunkt steht die Notärztin Rieke, gespielt von Susanne Wolf. Sie beginnt in ihrem Urlaub eine Reise mit ihrer zwölf Meter langen Segeljacht Asa Grey von Gibraltar zur Vulkaninsel Ascension, die ziemlich genau in der Mitte des Ozeans liegt, rund 1600 Kilometer von der westafrikanischen Küste entfernt und rund 2200 Kilometer von der ostbrasilianischen Küste. entfernt und rund 2200 Kilometer von der ostbrasilianischen Küste. Im Jahr 1836 landete Charles Darwin mit der berühmten Brickheimer Spiegel auf dieser Insel. Er war von ihr so fasziniert, dass er gemeinsam mit seinem engen Freund, dem britischen Botaniker Joseph Dalton Hooker, einen Plan zur Bepflanzung derartenvulkaninsel entwickelte. Die beiden Männer träumten tatsächlich von der Errichtung eines Paradiesgartens und mithilfe der Royal Navy wurden Pflanzen und Bäume aus England, Indien und Australien, den damaligen britischen Kolonien, auf die Insel transportiert. Gegen Ende des Jahres 1870 hatte sich bereits eine vielfältige Flora, Akalyptus, Pinien, Bambus, Bananenstauben und so weiter entfaltet, ein funktionsfähiges Ökosystem und erfolgreiches Evolutionsexperiment, allerdings auf Kosten der existierenden einheimischen Arten. Die sind natürlich untergegangen. Der Name der Insel Ascension verweist auch nicht auf den Garten Eden, sondern auf die Himmelfahrt, also wiederum eine symbolische Form der vertikalen Migration. Die Notärztin will sich selbst ein Bild vom aktuellen Stand des Experiments von Darwin und Hooker machen, doch wird sie nach einem schweren Sturm und Gewitter mit einer ganz anderen Situation konfrontiert. Nach dem heftigen Unwetter sieht sie in der Nähe ihrer Segler, deren Name Azagre auf einen US-amerikanischen Botaniker verweist, der ebenfalls mit Hooker und Darwin eng befreundet war. Sie sieht einen Trawler überladen mit Geflüchteten, die nun vom Schiffsuntergang und Tod durch Ertrinken bedroht werden. Rieke versucht über ihren Bordfunk Hilfe zu rufen, ohne Erfolg. Ihr wird explizit verboten, sich in die Operation an der Küstenwache zur Seenotrettung einzumischen, aber die Küstenwache kommt nicht. Inzwischen springen die Menschen vom havarierten Kutter ins Wasser. Ein 14-jähriger Junge mit einem Armband, auf dem sein Name zu stehen scheint, Kingsley, gespielt von Gedeon Oduor Vekesa, erreicht schwimmend die Asagrei und versucht, die Notärztin zu einer Rettungsaktion zu bewegen, entreißt ihr den Zündschlüssel der Yacht und stößt sie von Bord, lässt sie aber kurze Zeit später wieder ins Boot klettern. Die Lage bleibt hoffnungslos. In der Nacht erreicht Rieke den Trawler und erblickt eine Reihe von toten oder sterbenden Menschen, ohne effektiv helfen zu können. Im Morgengrauen trifft dann endlich ein Schiff der Küstenwache ein, um einige Überlebende aufzunehmen. Die Notärztin wird festgenommen, ihr wird angekündigt, dass ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet wird. Der Film beeindruckt durch seine eigene Kargheit. Er verzichtet komplett auf Musik, auf dieses inzwischen gewohnte Gedudel im Hintergrund, das meistens schon mit Hilfe von elektronischen Techniken produziert wird und Stimmungen signalisiert. jetzt unheimlich ist oder dass es jetzt gefährlich wird oder sonst irgendwas. Christian Petzold hat mal gesagt, Filmmusik, neuere Filmmusik hat nur noch den Zweck, Gefühle anzuschaffen. Er verzichtet auf Musik, er verzichtet aber auch auf Dialoge. Denn die Notärztin und der Junge können sich nicht verständigen. Und sprechen daher auch nicht viel. Und er verzichtet komplett auf Computer-Generated-Imageries. Also es gibt keine computergenerierten Bilder. Die großartige und dichte Kameraführung von Benedikt Neuenfels zeige eine Beklommenheit, eine Vorahnung, vielleicht auch Traurigkeit, so schreibt Thomas Assheuer in seiner Filmbesprechung für die Zeit vom 13. September 2018. Der Titel des Filmsstücks, so Assheuer, erinnere zwar an ein mythologisches Motiv, erzeuge aber keine Version einer antiken Tragödie. Vielmehr wird die Kriminalisierung humanitärer Versuche der Seenotrettung angeprangert, die inzwischen auch Aktivisten und Aktivistinnen auf den griechischen Lagern für Geflüchtete ernsthaft bedroht. Sie werden mitunter in Verhaftung als Schleuser angeklagt, ihnen drohen jahrelange Gefängnisstrafen. Das hat Franziska Grillmeier in ihrer sehr bedrückenden und gut lesbaren Reportage mit dem Titel Die Insel, ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas, erschienen im März 2023 im Beck-Verlag, aufgezeigt und dokumentiert. Es gibt mehrere auch namentliche Fälle, die sie da beschreibt, von Aktivistinnen. Ich glaube, die Carola Rackete haben sie gerade ein paar Tage festgehalten. Die sitzen wirklich im Gefängnis, warten auf Prozesse und auf Urteile, die sich auf eine Reihe von Jahren erstrecken können. Ich selbst habe und komme jetzt zum Schluss, vor sechs Jahren im Space Magazin der Kunstuniversität Linz ein Bild des US-amerikanischen Künstlers Eric Fischl aus dem Jahr 1983, gemalt also vor 40 Jahren, kommentiert. Ein realistisches, großformatiges Doppelölbild, das heute im New Yorker Whitney Museum of American Art hängt. Die Stimmungen der beiden Bildteile könnten nicht unterschiedlicher ausfallen. Auf dem linken Bild sehen wir eine Strandszene mit einem Motorbootfahrer und einer Frau, die sich auf einer Luftmatte hat zersonnt. Das Wasser ist ruhig, der Himmel blau. Auf dem rechten Bild scheint stürmisches Wetter zu herrschen, der Himmel ist dunkel, die See bewegt. Wir sehen, wie eine Gruppe von schwarzen Frauen und Männern einander aus dem Meer ziehen. Das Bild ist nach einer Fotografie entstanden, die Geflüchtete aus Haiti zeigt, die gerade an der Küste Floridas ankommen. Die Kompositionen an den beiden Bildteilen gleichen einander. Nackte, liegende Körper im Vordergrund, die Grenzen zwischen Himmel und Meer verlaufen in derselben Höhe. Das linke Bild zeigt eine Familie auf Strandurlaub in Haiti. Das rechte Bild zeigt Menschen, die ihr Leben riskiert haben, um von derselben Insel zu fliehen. A visit to, a Visit from the Island, so lautet der Titel dieses Bildes. Entspannung korreliert szenisch der Erschöpfung. Das Doppelbild konfrontiert nicht nur Reiche und Arme, Weiße und Schwarze, sondern auch die Migrationsströme, des Tourismus und der Flucht, Varianten von Reisen, die nebeneinander und gleichzeitig stattfinden, Elemente einer Lebensreise oder auch einer letzten Fahrt über den Stücks. Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Applaus