Was ist das, was man in der Geschichte lebt? Ich lese aus der Erzählung Emu lebt. Im Dämmerlicht sieht Emanuel sich bewegende Schemen. Hat er die Augen geöffnet? Er kommt nicht dazu, sich die Frage zu beantworten, denn er spürt, wie Übelkeit in ihm hochsteigt. Ist Ihnen schlecht, hört ein weibliches Wesen neben sich fragen. Da er nickt, wird ihm eine Schale um das Kinn geschoben. Er lebt noch, denkt er. Schließlich ist es doch unvorstellbar, dass man in den ewigen Jagdgründen speibt. Emanuel wiederholt den Gedanken noch mehrmals das Wort speiben, als sei dieses nunmehr ein Synonym fürs Leben. Und die Huris im siebten Himmel wissen bestimmt nicht, was eine Speibschale ist. Also muss er mit Fug und Recht davon ausgehen, dass er die Operation gut, er streicht den Gedanken wieder das Wort gut, überstanden hat. Man sollte nicht immer gleich das Beste annehmen. Übrigens würde er als bekennender Atheist nicht einmal in den ersten, geschweige denn in den siebten Himmel kommen. Viel ist da nicht hochgekommen, sagt er sich dann. Bestimmt ist es schon lang her, dass er etwas gegessen hat. Dabei weiß er doch gar nicht, wie lang es her ist, dass man ihn in den Operationssaal geschoben hat, wie lang die Narkose gewirkt hat. Er versucht nachzurechnen, wie viele Stunden er schon vorher nichts gegessen hat. Da hat er es geheißen, ab Mitternacht dürfe er nichts mehr zu sich nehmen. Aber er hatte schon nach dem Abendessen nichts mehr gegessen und selbst da hatte er nur wenig Appetit gehabt. Wie sollte man auch? Man käme doch nicht auf die Idee aus der Vorstellung heraus, es würde wohl längere Zeit dauern, bis man wieder etwas zwischen die Zähne bekommt, möglichst viel, gewissermaßen auf Vorrat zu essen. Wie hat das weibliche Wesen dem überhaupt gewusst, dass ihm übel wird? Sieht man das auf dem Monitor über dem Bett? übel wird. Sieht man das auf dem Monitor über dem Bett? Gibt es da eine eigene Anzeige, die ausschlägt, wenn ein Patient den Magen hebt? Oder sieht man, dass einer aus der Narkose erwacht und weiß aus Erfahrung, dem wird gewiss gleich schlecht und man fragt prophylaktisch und hält schon die Schale bereit. Es ist ihm, als hätte jemand in seiner Nähe Emanuel gesagt. Er hat gar nicht gemerkt, dass er zwischenzeitlich weggedämmert ist. Das merkt man eigentlich nie, sagt er sich dann, auch nicht daheim, auch nicht im eigenen Bett oder im Lehnstuhl vor dem Fernsehapparat. Darum heißt es ja wegdämmern. Und wahrscheinlich heißt es so, weil es im Dämmerlicht, wie es hier herrscht, besonders leicht fällt, wegzudämmern. Er hat nur Emanuel gehört, nicht Emanuel Hübner oder Hübner Emanuel. Wahrscheinlich hat sich wieder einmal jemand über seinen Vornamen gewundert. Heute ist ihm das schon ziemlich egal und in seinem gegenwärtigen Zustand kann es ihm wohl scheißegal sein. Aber er hat zumindest ein halbes Leben an diesem Vornamen gelitten. Und das hat ihm niemand wegoperiert. Wie kann man ein Kind, das sich nicht dagegen wehren kann, so nennen? Das hat er sich oft genug gefragt. Nur seine Eltern hat er nie danach gefragt. Und als er sich sagte, er hätte sie fragen müssen, da war es zu spät, da lebten sie beide nicht mehr. Ein Kind Emanuel zu nennen in einer Zeit, da alle anderen Kinder Volker, Gernot oder Sigurd hießen. Gelegentlich sagt er sich, dass ihn seine Eltern vielleicht deshalb den Namen Emanuel gegeben haben. Einen hebräischen Namen, wenn auch latinisiert, an dem sich niemand stoßen konnte, hatte doch auch der große Kant Emanuel geheißen und das war sogar die ursprüngliche, die hebräische Form. Nazis waren seine Eltern jedenfalls nie gewesen. Das war allerdings noch lange kein Grund, dies ein Kind büßen zu lassen. Nein, er verspürt kein Glücksgefühl, als ihm bewusst wurde, dass er noch am Leben ist. Das ist der Satz, der ihm auf der Zunge liegt, nachdem er offenbar wieder eine Zeit lang geschlafen hat. Es ist ihm, als habe ihn jemand danach gefragt und er müsse eine Antwort geben. Bestimmt hat ihn keine Krankenschwester gefragt, wo er froh sei, noch zu leben. Und sonst ist niemand da, der ihn hätte fragen können. Seine Bettnachbarn kann er nicht erkennen. Es gibt keinen Hinweis, dass sie ebenfalls schon aus der Narkose aufgewacht sind. Immanuel versucht, den Kopf ein wenig zu drehen. Sich mehr zu bewegen, wagt er nicht aus Furcht. Er könnte einen der Schläuche oder Drähte, die in ihm stecken und an ihm befestigt sind, knicken oder lösen. Abgesehen davon wird er nicht viel sehen, da er seine Brille weggepackt hat, bevor er Richtung Operationssaal geschoben werde. Plötzlich hat er ein Bild aus einem Frankenstein-Film vor Augen. War es ihm aus dem vorhergehenden Traum in Erinnerung geblieben oder hatte er es nachträglich hinzugefügt, nach eigener Vorstellung modifiziert, dass er sich gar nicht erinnern kann, je einen der Frankenstein-Filme gesehen zu haben. Es war der offene Oberkörper, in den eingegriffen wird. Ist er noch dasselbe wie vor der Operation, fragt sich Emanuel. Warum nicht, wenn bei einem Auto die Benzinzufuhr erneuert wird, bleibt es dasselbe Auto. Und wenn der ganze Motorblock ausgetauscht wird, weiß er, was in ihm alles verändert wurde oder ob er noch so fühlt wie zuvor? Tickt nicht sein Herz anders? Er hört es viel lauter schlagen. Nie hat er sein Herz so deutlich schlagen gehört. Und wenn er nun ein anderer ist, ihm andere Bücher gefallen wie zuvor, andere Musik gefällt als zuvor. Jemand tritt an sein Bett. Eine Frauenstimme fragt, wie geht es Ihnen? Gut, antwortet Emanuel. Er weiß doch gar nicht, wie es ihm geht, sagt er sich dann. Würde sich ein Schulterzucken auf die Monitoranzeigen auswirken? Danke.