Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte Sie sehr herzlich hier im Stifterhaus begrüßen. Anfang Februar ist im Holitzer Verlag ein neuer Roman von Evelin Schlag erschienen. Er trägt den Titel In den Kriegen. Wir freuen uns sehr, dass Evelin Schlag heute bei uns ist und ihren neuen Roman lesen wird. Ich begrüße Sie sehr herzlich. Herzlich willkommen. Moderiert wird der heutige Abend von Dr. Christian Schacherreiter, Autor, Literaturwissenschaftler, Literaturkritiker und Kolumnist der oberösterreichischen Nachrichten. Ich begrüße ihn ebenfalls sehr herzlich. Wenn wir heute das Wort Krieg hören, denken wir in Europa sofort an den russisch-ukrainischen Krieg und den Einmarsch der Russen in die Ukraine Ende Februar dieses Jahres und 2014. Evelyn Schlag, auch eine der bedeutendsten Gegenwart-Lyrikerinnen Österreichs, setzt sich in ihren Romanen immer wieder mit Krieg und Konflikten und den daraus resultierenden Folgen für die betroffenen Menschen auseinander. War 2011 in Die große Freiheit des Ferenc Puskas der ungarische Volksaufstand 1956 Ausgangspunkt des Romans, so war es im Roman Jemen-Café 2016 erschienen, der Bürgerkrieg in Jemen. erschienen, der Bürgerkrieg in Jemen. Im Roman In den Kriegen greift Evelyn Schlag nun auf ganz eigene Weise den Krieg, einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine auf. Zu schreiben begonnen hat sie bereits lange vor dem Kriegsausbruch vergangenen Februar. In ihren Poetikvorlesungen, die sie letztes Jahr an der Universität Innsbruck über die vielfältigen Wechselwirkungen von Fotografie und Literatur in ihrem Schreiben gehalten hat, geht sie bereits ausführlich auf ihren neuen Roman ein. 2017 schreibt sie in ihren Anmerkungen zu Literatur und Politik anlässlich der 40. Innsbrucker Wochenendgespräche über ihre Herangehensweise an politische Themen beim Schreiben. Zitat, Ich erzähle Geschichten und Situationen, erschaffe mit meiner Sprache eine Welt, die, auch wenn sie der Realität mitunter zum Verwechseln ähnlich sieht, mit dieser nichts zu tun hat, denn sie ist Fiktion. Gerade deswegen kann Literatur die Wirklichkeit beeinflussen, indem sie bei Lesern etwas erfahrbar macht, das ihnen sonst entgeht. Und etwas später heißt es, unter dem Druck journalistischer Tagesthemen zählt es zu den wichtigsten Aufgaben des Schriftstellers, Klischees zu widersprechen. Auch die Antworten auf Klischees sind oft Klischees. Beschreibt man aktuelle Inhalte in einer anderen Sprache, können sie mehr bewirken als die gängigen Versatzstücke. Davon träume ich. Einen einfachen lyrischen Satz in einem Boulevardmedium, der verstört oder erheitert, auf jeden Fall aufhorchen lässt. Wir dürfen uns auf einen sehr spannenden Abend freuen. Ich bedanke mich bei Evelyn Schlag, bei Christian Schacherreiter und bei Ihnen für Ihr Kommen. Wir empfehlen das Tragen der FFP2-Maske. Vorgeschrieben ist sie nicht mehr und ich möchte Sie jetzt schon einladen, nach der Veranstaltung unser Literaturcafé zu besuchen und es gibt auch einen Büchertisch. Nun aber übergebe ich das Wort an Christian Schacherreiter und Evelyn Schlag. Ich möchte gleich dort weitermachen, meine Damen und Herren, wo Regina Pinter in ihren einleitenden Worten einen Akzent gesetzt hat, nämlich bei diesem Thema des Krieges, der Gewalt. Und es ist ja tatsächlich so, dass dich dieses Thema scheinbar über die Jahre hin immer wieder beschäftigt und dass es zum Thema deiner Literatur wird. Regina Binter hat Jemen Café erwähnt, das war der letzte Roman, 2016, glaube ich, erschienen. Ein ganz anderer Handlungsraum. Es ist auch eine ganz andere Geschichte, auch von der Gestaltung her. Und jetzt ist also erschienen In den Kriegen. Und der Handlungsraum ist eine, ja klar, eine Gegend in der Ukraine, die du zwar nicht jetzt genauer präzisierst, aber es ist natürlich jetzt in Zeiten wie diesen, ist man als Leser aufs Erste irritiert. Denn das Buch ist erschienen wahrscheinlich im Februar oder März höchstens einmal. Also entstanden muss es auf alle Fälle vor dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine sein. sein und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sozusagen, wie man so sagt, sind aber keineswegs ein Zufall wahrscheinlich. Es ist natürlich, drängt sich da zuerst einmal die Frage nach der Entstehungsgeschichte deines neuen Romans auf. Also ich war 2014 zum ersten Mal in der Ukraine und zwar in Tschernowitz bei einem Lyrik-Festival und habe dann mich sozusagen in dieses Land verschaut eigentlich. Ich habe gleich eine sehr enge Beziehung gehabt zu einigen Leuten und ich habe angefangen immer wieder über die Ukraine zu lesen, ihre Geschichte und so weiter und nachdem der Krieg ja im 14er Jahr begonnen hat, habe ich das alles stark verfolgt. Wie passt es jetzt zu der Aktualität? Ich habe das Buch praktisch 2018 fertig gehabt, war davor noch einmal in der Ukraine, in Lemberg mit Bekannten. Und 2018 war es dann, nach mehreren Überarbeitungen war ich bei einem Manuskript, das, naja, das hat diese Reise beschrieben, der vier jungen Leute, aber eigentlich hatte es noch zwei Teile davor gehabt. Jedenfalls eine irrsinnig komplizierte Entstehungsgeschichte. Und dann, ich erzähle das jetzt einmal so, wie es war, weil es ja auch interessant ist, bin ich zu meinem Verlag gegangen, also Schollner, und habe ihnen das gebracht und sie haben es mäßig lang begutachtet und dann ist es mir zu blöd geworden, ich habe gefragt, was ist jetzt eigentlich? Und dann hat mein Verleger gesagt, Evelin, du verkaufst zu wenig. Und ich habe gesagt, Moment einmal, nicht ich verkaufe zu wenig, ihr verkauft zu wenig. Und das war es dann. Ich konnte natürlich nicht wissen, aber es hat nichts geändert daran, wie sich das dann weiterentwickelt hat. Ich bin dann wirklich zuerst noch bei großen, bekannten Verlagen, manchmal über Empfehlungen von Freunden, also hin und her, dieses und jenes, und habe dann eigentlich zum Teil Frechheiten gesammelt, zum Teil völlige Ignoranz, und dann irgendwann habe ich das Gefühl gehabt, okay, du bist zwar mein Lieblingskind, aber es geht so nicht. Und dann habe ich zufällig eine Rezension gelesen, eine gute Rezension, so wie du sie auch schreibst, und über einen russischen Autor, Maxim Osipov, das war in der Franz. Das hat mir sehr gefallen und dann schaue ich, was ist das für ein Verlag, Holitzer, hat mir überhaupt nichts gesagt. Dann habe ich gegoogelt, bin draufgekommen, Holitzer ist eigentlich ein musikwissenschaftlicher Verlag und habe dann, haben wir ein Belletristik-Programm und habe dann meinen Koffer sozusagen dorthin geschickt, also Exposé und Biografie und den ganzen Text. Und zwei Stunden später habe ich einen begeisterten Brief von meiner Lektorin bekommen, die geschrieben hat, sie wären wahnsinnig glücklich, den Roman machen zu dürfen. Also das hat ein Wunder gebraucht. Ich könnte mir auch vorstellen, dass bei Schollner mittlerweile ein bisschen Katzenjammer da ist. Weil die Reaktionen auf deinen Roman habe ich eigentlich, also ich habe nur positive Reaktionen darauf gelesen, ich war auch selber beeindruckt davon. Und was natürlich nicht vorhersehbar war, war jetzt dieses Zusammentreffen mit dieser Situation. Das heißt, ja, es ist ein Zufall und nein, auch wieder nicht, weil du die Ukraine natürlich gekannt hast, weil du diese Situation, die auf der Krim existiert hat, also 2014 und seither eben, ernst genommen hast und weil das geblieben ist und eben jetzt ausgebrochen ist. Gut, damit kommen wir aber jetzt zum Roman selbst. Ja, das Thema Verlage ist eine eigene Sache, wenn man weiß. Kommen wir zum Roman selbst jetzt. Die Ausgangssituation ist schon irgendwie auch sehr auffällig, sehr ungewöhnlich. sehr ungewöhnlich. Also, wenn wir mit diesen zwei jungen Deutschen beginnen, zwei junge Männer, also noch um die 25 oder noch keine 25, vielleicht sogar, der eine musste seinen Abschied nehmen von der deutschen Bundeswehr, das ist ein Norddeutscher, dieser Jens, und unter etwas unehrenhaften Bedingungen, unter anderem ist ein Bayer namens Ivo, und die beiden haben sich entschlossen, in der Ukraine als Legionäre zu kämpfen. Freiwillige oder Legionäre. Freiwillige, Legionäre, wobei du die Motive durchaus ein bisschen offen lässt auch, die dahinter stehen. Vielleicht lässt sich das auch nicht immer noch lernen. Und dann passiert eben etwas, nämlich ein Kamerad sozusagen, Andri, der stirbt im Kampf. Und das leitet jetzt eine Wendung ein, die dann handlungsbestimmt wird. Also das wäre sozusagen die Ausgangssituation und ich glaube, es würde ganz gut schon der erste Text jetzt passen, wenn das recht ist. Ich wartete vor der roten Hauswand in einem offenen Hof. Spät am Morgen, nach einem langen Schlaf, hatte ich diese Wand zum ersten Mal bei Tageslicht gesehen. Ein Wunder, dass ich es die Nacht davor hierher geschafft hatte. Andri hatte, als er noch bei Bewusstsein war, nach seinem Smartphone verlangt. Die Fotos von Tanja alleine und Tanja mit ihm, der uns gezeigt hatte, vor allem das eine, auf dem Tanja die Hand wie ein Pfötchen hängen ließ. Visit hatte er gestammelt, Visit und den Namen der Gasse und mir das Smartphone mitgegeben. Tanja sah zart und elegant aus auf dem Foto vor dem Roten Haus. Fast gleich groß wie Andri stand sie kokett neben ihm in einem kurzen Kleid mit tiefem Ausschnitt und Rüschen an der Seite. Ihr langes Haar war in der Mitte gescheitelt. Andri in dunkelblauer Hose und Helmhemd, das Falten schlug über seinem schlanken Bauch, aus dem das Blut herausgeschossen war. Ich hatte mit beiden Händen darauf gedrückt. Jemand hatte Alco-Family auf die Wand gesprayt. Das musste ganz frisch sein. Weiße Spitzenvorhänge in allen Fenstern, verdunkeln, sonst trifft es dich. Ich stieg über die hölzerne Außentreppe zur Wohnung im ersten Stock hinauf, die mit einem Sicherheitsschloss versehen war. Drinnen schnürte ich meine Stiefel auf. Meine Füße in den Wollsocken hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Boden. Im Bad drückte ich die Socken im Seifenschaum durch und legte sie über den Heizkörper. Danach fühlte ich mich wohler. In der Küche ihr Frühstücksgeschirr im Abwaschbecken, wie ich es am Morgen gesehen hatte. Das heiße Wasser kam mit einem Fauchen aus dem Hahn, jagte den Rest von Kaffee aus den Tassen. Neben der Küche war das Schlafzimmer des Paars. André hatte wie ein Stein schlafen können. Er schloss die Lieder. Im nächsten Augenblick kam ein leises Schnarchen. Polypen hat er gesagt und gelacht, wenn wir ihn morgens darauf ansprachen. So viel wurde nebensächlich. Die große Müdigkeit. Ich setzte mich auf die Couch im Wohnzimmer, das Bettzeug hatte ich am späten Vormittag zusammengelegt. Wir hatten nicht darüber geredet, wie lange ich bleiben würde, ich wusste es selbst nicht. Bilder von einem Traktor, der versucht, einen Panzer aus einer Schneewehe zu befreien. Mit ein paar Kameraden ziehe ich den Traktor an starken Seilen. Nichts gelingt. Der Traktor wäre selbst ohne den Panzer zu schwer, das weiß ich. Aber ich traue mich nicht, mein Wissen mit dem Kameraden zu teilen, weil ich kein Schwein sein möchte. Ich muss ihnen Mut signalisieren, indem ich selbst stärker an meinem Seil ziehe. Es liegt über meiner Brust. Ich stemme meinen Fuß so fest, ich kann in den Schnee, um den anderen Fuß nach vorn setzen zu können. Was für eine Anstrengung. Ich schreckte aus dem Schlaf. Jens, sagte Tanja. Sofort sprang ich auf. Ehe ich ihr die Hand geben konnte, hatte sie sich an mich gelehnt und mich umfasst sie sagte nichts ihr Körper zuckte in kurzen Abständen stumme Detonationen wie in weiter Entfernung weit in ihrem Innersten ihren Kopf hatte sie an meine Brust gelegt sie rollte ihn unglaublich hin und her. Sie verstand etwas nicht, etwas viel zu Großes. Du bleibst so lange du willst, ja? Tanjas Deutsch war nahezu akzentfrei. Sie verstand im Bad. Ich habe meine Socken gewaschen, rief ich ihr nach. Hast du ein zweites Paar? Ja. Hätte sie mir ein Paar von Andris Socken gewaschen, rief ich ihr nach. Hast du ein zweites Paar? Ja. Hätte sie mir ein Paar von Andris Socken angeboten? Draußen hatten wir selten etwas untereinander getauscht. Bis zur Ausbildung hatten manche ihre mitgebrachte Kampfkleidung getragen, in Surplus-Stores online gekauft. Dann kam eine große Anzahl von US-icam Kampfanzügen, eine Spende aus Dänemark. Die Scharfschützenabzeichen der Nationalen Armee waren bereits aufgenäht. Ein merkwürdiges Gefühl war das gewesen. Als lebte man in einem anderen Leben, was ja stimmte. Ich war froh, meine Lederjacke wieder tragen zu können, die richtige Kamouflage für das zivile Leben. Ist es dir recht, wenn wir jetzt auf den Friedhof fahren? Tanja hatte einen alten Skoda. Ich wartete darauf, dass sie zu reden begann. Ich wollte ihre Konzentration nicht stören. Sie fuhr so schnell, wie sie bei diesem Schnee konnte. Viele Autos waren ohnehin nicht unterwegs. Selten rumpelte eine alte Straßenbahn in eine Kurve. Dort unten habe ich mein Büro, sagte sie. Ich arbeite für eine große polnische Firma und zwei deutsche. Mit Teilzeit schaffe ich das gerade. Ich verhandle alles für die Kunden. Verträge? Nicht nur. Ich erledige auch ihre anderen Kontakte. Ich betreue Besucher, veranstalte kleinere Events, bereite Auftritte vor, schreibe eine Rede, wenn es nötig ist. Dein Deutsch ist hervorragend, sagte ich. Lobte ich sie. Wieso hast du dich hier freiwillig gemeldet, in einem fremden Land, das dich im Grunde nicht betrifft? Es klang leicht hingesagt. Bundeswehr. Aha, hast du dort deine Ehre verloren? Das kann man so sagen. Ich lachte, ehrlos entlassen. Was war der Grund? Du fragst sehr direkt, Tanja. Wie soll man sonst fragen? Du bist kein Geschäftskunde, bei dem ich diplomatisch sein muss. Du bist Andris letzter Freund. Wenn ich an Andri dachte, sah ich ihn in seinem Kampfanzug durch die Stadt gehen. Wie eine Figur in einem Videospiel. Ich habe ein paar Mal die falschen Lieder gesungen, sagte ich. Besoffen, bescheuert. Würde ich heute nicht mehr tun. Tanja schaute in den Seitenspiegel. Ich hatte das Gefühl, er sei nicht richtig eingestellt, weil sie sich zu weit vorbergen musste. Draußen haben wir ein paar Mal in leer stehenden Häusern übernachtet. Die Bewohner waren vor den Separatisten geflüchtet. Muss schwer sein, solche protzigen Villen zurückzulassen, die geschmacklosen Möbel, nicht zu wissen, ob sie sie jemals wiedersehen. Hat André sich in deren Betten gelegt? Hätte er auf dem Boden schlafen sollen? Beruhige dich, Tanja, André hat nie etwas Gemeines getan in diesen Villen. hat nie etwas Gemeines getan in diesem Villen. Außer ein paar Gläsern Wein haben wir nichts genommen. Andere schon als Souvenirs. Die Besitzer waren korrupte Geschäftsleute. Mit ehrlicher Arbeit hätten sie es nie so weit gebracht. Zu Hause hat er nur Bier getrunken. Ich dachte an das Kristallglas, das Ivo fallen gelassen hatte. Die alten Grabdenkmäler sind berühmt, sagte Tanja, als wir nach kurzer Zeit auf den Parkplatz einbogen. Man kann Stunden hier verbringen. Im Sommer gehen die Einsamen auf diesen Wegen und verlieben sich in Porträts, stellen sich vor, dieser Mann oder diese Frau könnte eines Tages auferstehen und mit ihnen ein neues Leben beginnen. Sie schlug die Wagentür mit einem lauten Knall zu. Über den Friedhof wehte ein eisiger Wind. Tanja zog die Kapuze über den Kopf und umarmte ihren Körper, die umgehängte Handtasche vor sich gepresst. Sie sah weder nach links noch nach rechts, während sie die Straße überquerte. Ein breiter Platz tat sich innerhalb der Mauer auf, teils verweht und zugeschneit, nach allen Richtungen breite Pfade ausgefräst. Der Weg zum Ehrenhain war festgetreten. Wir stiegen die schmalen Stufen hinauf, neben uns andere Besucher. Oben angelangt überblickten wir eine große Fläche, Reihen von Grabsteinen aus grauem Marmor in Form eines Kreuzes. Eines wie das andere marschierten sie auf der Stelle, ein Bataillon, das nicht mehr vom Fleck kam. Tanja gab mir Zeit, mich an den Anblick zu gewöhnen. Da und dort wischte eine Frau den Schnee vom Farbfoto eines Gefallenen. Durchwegs junge Männer zupfte einen Strauß Plastikblumen zurecht. Durchwegs junge Männer zupfte einen Strauß Plastikblumen zurecht. Wo liegt er? Dort drüben bei den ganz neuen Gräbern. Sagt ihr nicht frische Gräber? Das stimmt. Auf dem Weg blieb ich bei einem Grab stehen. Auf dessen Holzkreuz prangte ein großes Farbbild. Ein fröhlicher Kerl mit einer schwarzen Wollmütze. Er lächelte zufrieden. In der rechten Hand hielt er eine senkrecht in die Höhe weisende AK-47. Hinter ihm ein Weizenfeld. Ich las die Buchstaben. André. Ein anderer André. Über den Querbalken des Kreuzes war die zweifarb gewesen. Wir wollten bald heiraten. Nach dem Krieg? Nein, in zwei Monaten. In zwei Monaten. Ich nahm die Gegenstände auf dem Grab nicht wahr. Du bist nur eingefroren, du bist nicht tot. Du kommst zurück, spätestens zu deiner Hochzeit. So ein Arsch wirst du nicht sein, deine eigene Hochzeit zu verschlafen. Du mit deinem Schlaf von einer Sekunde auf die andere. Erzähl mir, wie er gestorben ist Beinahe hätte ich gesagt Hat er dir das nicht erzählt? Ich weiß so wenig von seinem Einsatz Er wollte dich schonen Wenn er mich hätte schonen wollen, hätte er sich nicht gemeldet Ich bin keine von diesen jungen Weibern, die stolz sind auf ihre Soldatenfreunde Mit zwei meiner Freundinnen rede ich aus diesem Grund nicht mehr. Das Höchste wäre ein Pilot. Die Piloten haben immer und überall das größte Prestige. Gelten als die mutigsten, sagte ich. lange leiden müssen? Ich griff mir an die Stirn, ich musste blitzschnell auswählen. Sie hatten uns verfolgt, schossen unaufhörlich. Wenn wir dachten, wir hätten sie abgehängt, hörten wir das Pfeifen. Eine Granate landete und explodierte. So ging das eine Weile dahin. Überall nackte Bäume mit weggesprengten Ästen, wie Pferde, die sich aufbäumten. Plötzlich war Ruhe. Wir waren am Rand eines Dorfes. Zwei Hunde rannten uns entgegen, als wollten sie uns warnen. Ich dachte mir, wenn ich gut zurückkomme, möchte ich einen Hund haben. Wolltet ihr nicht auch einen Hund? Nicht, dass ich wüsste, hat er das gesagt. Ich kann mich irren. Wir haben so viel verrücktes Zeugs geredet. André mochte Hunde nicht, sagte Tanja. Als Kind musste er auf dem Schulweg an einem Garten vorbeigehen, in dem ein Schäferhund auf jeden Passanten losstürmte und mörderisch bellte. Hier in der Stadt? Er ist weiter draußen aufgewachsen. Dort hatten seine Eltern einen kleinen Hof. Das hat er dir sicher erzählt. Oder redet man nicht darüber, woher man kommt, wo man zu Hause war? Doch, klar. Seit ich mit den Hunden angefangen hatte, bekam ich das Wort Pfötchen nicht aus dem Kopf. Was verschweigst du mir? Wieso willst du mir nicht endlich sagen, wie André gestorben ist? Es ging sehr schnell, er hat nicht gelitten. Hast du ihm erste Hilfe geleistet? Ja, ja, das habe ich. Was genau hast du gemacht? Ich habe seine Wunde Ich habe seine Wunde zugehalten Es war nichts mehr Das heißt, er ist verblutet Tanja hielt sich die Hand vor den Mund Er hat gesagt, ich soll dich besuchen, visit und mir sein Smartphone gegeben, sagte ich Und dann ist er gestorben Ja, sie nickte wie zur Bestätigung Habt ihr euch die Fotos alle angesehen? Wart ihr betrunken dabei und habt obszöne Bemerkungen gemacht? Überhaupt nicht, Tanja. Es ist ganz anders, als du denkst. Er war so stolz auf dich, so voll Liebe. Das haben wir alle gespürt und ihm beneidet. Und? Und? Und aus diesem Neid ist es passiert, dass wir dich Pfötchen genannt haben, weil du auf dem Foto vor eurem Haus die Hand wie eine Pfote hältst. Tanja starrte mich an. Wie bei Da Vinci, diese Dame mit dem Hermelin, kennst du das? Ja. Ja, der Sermelin lässt seine Pfote über die Hand der Frau hängen. So kam ich drauf, dich Pfötchen zu nennen. Tanja nahm ihr Smartphone. Meinst du dieses? Sie versuchte, ihre Hand größer zu ziehen. Wusste er überhaupt, was das Wort bedeutet? Wir haben es gemeinsam übersetzt für ihn. Welches Wort kam da raus? Ich habe es vergessen. Ich drehte mich weg von Tanja. In meinen Ohren stieg ein Druck hoch, der mir fast den Mund aufriss. Meine größte Angst ist, dass ich eines Tages nicht mehr weiß, wie er roch, sagte sie. Dass meine Sinne versagen, weil sie sich so schlecht erinnern. Als wir ihm den Helm abgenommen haben, war sein Haar nicht verschwitzt, gar nicht. Ich habe ihm über die Stirn gestrichen. Hattest du deine Handschuhe ausgezogen? Konntest du seine Haut spüren? Ich hatte meine taktischen Handschuhe an, die gehen nur bis zum halben Finger. Aha, sehr klug. Jetzt weiß ich, warum die keine Fingerspitzen haben. Diese Handschuhe, die waren bei seinen Sachen, die sie mir geschickt haben. Ich habe etliche Mädchen mit solchen Handschuhen gesehen. Ob die alle aus einem Nachlass sind? Anzunehmen, sagte ich. Wir nahmen Abschied. Ich schaute André in die Augen. Es kam mir vor, als richte André seine blauen Augen nach Tanjas Seite. tragische Ereignis, dieser Tod von André, ist jetzt die Ausgangssituation und dann lässt du aber etwas eintreten in der Handlung, das sozusagen dann der Handlung die Richtung gibt. Und zwar ist es eine Art Bewältigungsstrategie für Tanja, sich auf eine Wanderung zu begeben. Es ist auch von einer Wallfahrt irgendwie die Rede oder vielleicht von einer Art Friedensmarsch auch unter solchen Bedingungen. Es bleibt ein bisschen offen. Es ist aber sozusagen ein sehr prominentes literarisches Motiv, der Aufbruch zu einer Reise, zu einer Wanderung. Das ist ein großer literarischer Topos sozusagen, der auf die unterschiedlichste Art und Weise immer wieder ausgeführt worden ist. Was ist diese Wanderung für dich in dieser Geschichte, also dieser Aufbruch zur Wanderung? Du hast schon recht, es hat etwas, fast etwas Mythisches und diese, so eine Wallfahrt, sie nennen es dann ja auch Wallfahrt, sie ringen um ein Wort eigentlich, sie ringen um einen Begriff, Tanja und die zwei Deutschen und es kommt dann noch ein junger ukrainischer Dichter hinzu, der auch sehr gut Deutsch spricht. Diese vier Leute wollen gemeinsam im Grunde genommen Raum hinter sich bringen. Sie wollen gehen, sie wollen vor allem gehen. Ich habe immer gedacht, es ist ein Roadmovie, ist es aber nicht, weil sie ja keine Straßen gehen oder nur wenig. Und sie versuchen, sozusagen mit dem Erlebten fertig zu werden. Es soll eine Wallfahrt für den Frieden sein. Und Tanja glaubt oder hofft, dass sie Frieden findet in ihrer Trauer für den gefallenen Freund oder Verlobten. Ja, diese Gruppe, die jetzt hier aufbricht. Also Tanja haben wir schon kennengelernt aus dieser Textstelle, die du vorgelesen hast. Jens ist also, wie wir gehört haben, der Ich-Erzähler auch hier und der Freund Ivo. Du hast jetzt noch dazu diesen Poeten genommen und da denkt man natürlich als Literaturhistoriker ein bisschen an, wenn der Poet dabei ist, wenn da eine Reise beginnt, das hat eine gewisse romantische Tradition in ihrer ganzen Ambivalenz, nämlich nicht Romantik jetzt im Sinne von trivialer Kitschromantik sozusagen, sondern in dieser Ambivalenz des Aufbruchs zur Reise. Auf der einen Seite hat das etwas Befreiendes, hat immer was mit Freiheit zu tun und die wollen sich ja auch von einem schrecklichen Erlebnis in gewisser Weise befreien sozusagen. Auf der anderen Seite ist das Wanderermotiv in der Romantik auch immer etwas traurig besetzt. Es hat was mit Heimatlosigkeit, mit Heimatverlust, mit Unbehaustheit sozusagen zu tun. Also ich habe den Eindruck bekommen, dass diese Ambivalenz des Aufbruchs zur Wanderung in deinem Buch fast so etwas wie eine Dauerpräsenz bekommen hat. Jetzt würde mich interessieren, ist das nur, weil ich das im Kopf habe, oder ist das im Text tatsächlich drin? Das kannst du mir vielleicht sagen. Also Vitali würde sagen, es gibt zwei Antworten. im Text tatsächlich drin. Das kannst du mir vielleicht sagen. Also, Vitali würde sagen, es gibt zwei Antworten. Ja. Such dir eine aus. Ja, dann habe ich einfach recht. Ja, das passt. Ja, also, gut, also, wir dürfen auf keinen Fall vergessen, es gibt ja eigentlich auch noch einen fünften Reisebegleiter oder eine Reisebegleiterin möglicherweise, die Olga. Olga ist ein Marienkäfer. Und ich glaube aber, dass die Entscheidung einer Autorin sozusagen einen Marienkäfer mitreisen zu lassen, das soll man nicht unter den Tisch fallen lassen. Das ist ja auch, es gibt der Geschichte ein ganz eigenes Gepräge, finde ich, so eine Entscheidung. Also einen Marienkäfer sollte man nie vom Tisch fallen lassen. Aber ich habe das ganz besonders schön von dir gefunden, dass du auf diesen Marienkäfer sollte man nie vom Tisch fallen lassen. Aber ich habe das ganz besonders schön von dir gefunden, dass du auf diesen Marienkäfer, dass du den überhaupt gewürdigt hast als Person. Er ist ja nichts weniger oder sie ist nichts weniger als eine Person. Ivo findet die Olga und steckt sie dann in seine Brusttasche und muss immer wieder mal nachschauen, ob sie noch da ist und einmal, wenn sie Bia spielen, dann lehnt er sich auf den Tisch und dann fragt die Tanja, um Gottes Willen, hast du nicht an Olga gedacht? dieses, ich tue mir schwer, Marienkäfer-Mädchen, die aufzunehmen, das ist etwas, was mir sehr nahe ist, weil ich sehr viel mit Tieren lebe, die alle dann Namen bekommen. Also ich spreche mehrere Tiersprachen. Auch die von Marienkäfern? Ja, das habe ich vorher nicht gewusst. Und die anderen vier sprechen das auch. Und es war sehr befreiend, dass die das sofort mit in der Partie waren. Aber es ermöglicht natürlich auch einen, es gibt dem Ivo, es charakterisiert den Ivo als einen sehr herzenswarmen Menschen, der so viel als sonst herumkalauert oder Blödsinn sagt oder auch ordinär ist, er wird ja schnell ordinär, gibt es ihm einen sehr rührenden Charaktermantel, möchte ich fast sagen. Ja, es kommt dadurch auch ein bisschen fast was Kindliches rein. Kinder nehmen ja das wirklich dann total ernst, wenn sie so ein Tierchen sozusagen da mitnehmen. Und es kommt auch so ein absurder Humor teilweise bei manchen Stellen in deinen Text hinein. Ich erinnere mich an eine Textstelle, die in einer schwierigen Situation ist und die Frage ist, muss einer zurückbleiben? Und der Evo sagt, ja, aber sicher nicht die Olga, das ist nicht verhandelbar. Also die reist weiter mit auf alle Fälle. Ja, damit bin ich schon bei der Gestaltung, bei einem Gestaltungsprinzip wäre das falsche Wort. Die Gestaltung, für die du dich entschieden hast oder die sich ergeben hat, so ganz weiß man ja nie, wie sich das einstellt dann. Wir haben schon aus deiner Textstelle gehört, das ist eine sehr realistische Erzählung auf der einen Seite, also die Figuren wirken real, die Situation wird sogar bedrückend real teilweise. Es kommt aber dann zum Beispiel durch die Geschichte mit der Olga da eben, kommt so eine leicht surreale Ebene auch immer wieder hinein. Oder ich habe mich zum Teil auch an ein absurdes Drama an Samuel Beckett erinnert gefühlt oder an Kafka ein bisschen. Ramann, Samuel Beckett erinnert gefühlt, oder an Kafka ein bisschen. Es ist nicht ganz eindeutig, aber jedenfalls kommt so eine zweite Ebene hinein, die der Geschichte ein ganz eigenes Gepräge gibt. Bewusst gewollt oder eingetreten für die Autorin Evelyn Schlag? Das ist, ich kann das so schwer sagen, ich habe einfach immer weitergeschrieben. Und es hat sich dann so weitergeschrieben. Und es ist mir ganz natürlich erschienen, dass das dann sozusagen eine zweite Ebene bekommt. Weil sobald Sie die Stadt, wo sie sich kennengelernt haben, verlassen, gehen sie aufs Land hinaus sozusagen, sie kommen schon immer wieder auch in eine Stadt und es ist aber im Wesentlichen eine leere Gegend und dadurch nehmen auch verschiedene, also zum Beispiel die Wahrnehmung der Landschaft oder des Wetters kriegt eine andere Bedeutung und dadurch kommen auch surreale Sachen hinein. Weil Gewitter was anderes bedeuten und Regenbögen was anderes bedeuten. Und auf die Weise kann man mit diesem unheimlichen, es ist ja eine unheimliche Atmosphäre in der Geschichte, durch diese furchtbare Geschichte, die in diesem Land geherrscht hat. Und dadurch lässt sich das irgendwie, lässt sich damit besser umgehen, ohne dass man etwas vom Schrecken nimmt. Ja, weil du ja auch, das ist ja ein interessanter, also daraus ergibt sich auch sehr interessante Wirkungen auf mich durch die Darstellung der Natur, wie du sie machst. Man merkt auf der einen Seite, natürlich ist auch Natur irgendwo vom Krieg gezeichnet, aber die Natur macht trotzdem weiter. Sie hat ihren Rhythmus der Jahreszeiten, du kannst Natur gut erzählen. Das ist ja etwas, das nicht jeder kann. Wir sind hier im Haus Adlerblatt Stifters, also da ist sowas natürlich, hat das einen besonderen Stellenwert. Aber dadurch ergibt sich auch ein ganz eigenes Spannungsfeld für mich durch diese Unberührtheit der natur auch wieder gegenüber dem was sonst passiert ja ich denke wir sollten zum zweiten text auszukommen wenn dir das recht ist Meistens blieben wir nicht länger als ein, zwei Nächte an einem Platz. Armselige Bauernhütten ohne Stelle und Scheunen, keine abgebrannten Fahrzeuge, die hatte jemand gründlich weggeräumt. Im Gras Panzerspuren, in die Beton gegossen worden war, vor wie vielen Kriegen wusste ich nicht. Sie sahen wie Fossilien aus. Abdrücke von großen Schalentieren, von Hundertfüßlern. Ob das nicht eine Panzermarke war? Ich hätte Vitali fragen müssen. Tanjas Wegen unterließ ich es. Im Geist spielte ich eine Partie mit ihm. Nach kurzem hatte ich vergessen, wer ich war und wer er. Ich glaube, wir hatten alle Sehnsucht nach Rotem Mohn. Ich konnte meine Träume nicht behalten. Sie zogen die Tür hinter sich zu, sobald ich aufzuwachen begann. Ivo redete von einer Freundin, von der er seit Monaten nichts gehört hatte. Wir trauten uns nicht, unseren Verdacht laut auszusprechen. Man dürfte nichts Maßloses verlangen, alles war schnell zu viel und darunter ging es nicht. Nicht lange danach legte er sich einen Lieblingstraum zu, den er tatsächlich mehrere Nächte lang abrufen konnte. Er erzählte ihn jeden Morgen und wir sollten ihm sagen, ob er diesmal eine Kleinigkeit anders geträumt hatte als die Nächte zuvor. Vitali meinte einmal, dass bei einer bestimmten Szene vor drei Tagen eine junge Frau im Hintergrund gelehnt war. Das kann nicht sein. Wie soll die ausgesehen haben? Blond? Weizenfeldblond. Wie ein Gebäck. Da gibt es viele Möglichkeiten, sagte Tanja. Ich glaube, ihre Haare hatten einen satten, vollblonden Ton. Hast du die auch gesehen, Tanja, in seinem Traum? Danach erzählte Ivo diesen Traum nicht mehr. Wir warteten auf den Nächsten, denn Ivo gehörte zu den Menschen, die ohne Träume nicht leben konnten. Er redete davon wie von einem Hobby, was mir eine Gänsehaut über den Rücken zog. Lord, bewahre uns vor Hobbys, das sagte ich sogar einmal und bekam von Vitali zur Antwort, ich sollte den Mund halten, ich sei ja nur ein Hobbykämpfer, ein Hobbyfreiwilliger. Und du, willst ein Dichter sein? Habe lang kein Gedicht von dir auf eine Scheunenwand genagelt gesehen. Die sind alle verbrannt, believe me, Gedichte halten nur in der Stadt. alle verbrannt, believe me. Gedichte halten nur in der Stadt. Über den großen Himmel leuchteten Blitze. Ich wartete auf den Donner. Es kam nur Motorenlärm und der war eine Halluzination. Ich wusste, es gab einen genauen Begriff dafür. Vitali schreckte aus dem Schlaf hoch, fasste mich am Ärmel. Circa commissara. Alles gut, Vitali. Mit der Zeit hatte ich Sehnsucht nach etwas Farbigem, das durch die Luft segelte und in einem Gebüsch hängen blieb. Dünne, bunte Einkaufssäckchen anstatt tibetanischer Fahnen, die man hier nicht bekommen würde. Sogar ein grüner Düngersack wie ein Zeppelin über einem Baum wäre mir eine erwünschte Abwechslung gewesen. Ich hatte einen Sonnenbrand im Gesicht, auf den Händen rote Flecken. Gedanken an Wunden und Heilung, Brüche und Schorf geisterten durch mein Gehirn. Bleibt einmal ganz ruhig stehen, sagte Vitali, nachdem wir eine Weile in den neuen Tag marschiert waren. Spürt ihr etwas unter euren Füßen? Tanja schüttelte nur den Kopf. Ich stehe auf einer Wurzel, sagte Ivo und suchte sich eine andere Stelle. Ich horchte konzentriert unter meine Fußsohlen hinein. Der Wind mal leichter, mal kräftiger. Wir standen da wie auf einem Plattencover, vier Leute in loser Verteilung, alle in dieselbe Richtung blickend. Ein paar Fettchen von Ivos Pferdeschwänzchen im Wind, ein paar Locken von Tanja, alle von einem starken Willen positioniert. Unvorstellbar, dass einer ausscheren und aus dem Bild gehen könnte. Jedem würde etwas fehlen, das über seine eigene Person hinausreichte. Das Blut war aus Vitalis Wangen gewichen. Er schien mehr und mehr in sich zu versinken, als spiele in seinem Inneren ein unsichtbares Instrument, als singe der Schmerz dieser unter dem blassen Gras so dunklen Erde in ihm. Keine zehn Meter entfernt warteten entkleidete Opfer, sagte er. Rundum bewegten sich die Gräber und schrien, während jemand ein Huhn grillte. In den Schießpausen musste der Hunger gestillt werden. In den Schießpausen musste der Hunger gestillt werden. Er sprach pointiert, kommentierte eine Dokumentation, sprach zu Bildern, die er sah und die wir sehen sollten. Ich wusste nicht, wie ich den Einstieg in seinen Film schaffen könnte. Fürchte, fürchtete, jemand könnte eine dumme Bemerkung machen. Ich hoffte inständig, dass Vitalis Gesichter, so nannte ich sie, uns nicht auseinandersprengten. Nicht, bevor wir unser Ziel erreicht hätten, nicht, bevor wir in die letzte Strecke unserer Welt und Wallfahrt eingetaucht wären, hinüber zur Halbinsel oder bis zu ihren weißen Klippen, an die das helle Meer schlug. Wir schritten auf ein Dorf zu einer Ansammlung von Holzhäusern. Die Dächer intakt, die Wände aus Baumstämmen, an den Ecken überkreuzgelegt, solide errichtet. An den Zäunen blühten rosa Rosen, eine vorherrschende Sorte. Sicher waren alle Kleiderschürzen der Frauen aus einem einzigen Stoff geschneidert. Dornröschen, sagte ich zaghaft. Nein, Jensi, du meinst Roswittchen. So ist Leben, Ivo. Als wir den Vorbau eines Hauses betraten, lagen da mehrere Stiefel auf einem Haufen. Frauenstiefel, sagte Tanja. Vitali ging voran und stieß einen Schrei aus. Verstand, Iva und ich stapften zögernd an ihr vorbei in den Raum. Drei nackte Frauenleichen nebeneinander, als sollten weitere kommen. Eine lag seitlich, ein Knie angezogen, mit weit aufgerissenen Augen zur Seite, die Arme vor der Brust überkreuzt mit einem Kochlöffel in den gefalteten Händen. Der Kittel hochgeschoben. Ich brachte es nicht zusammen, mir die jüngere Frau anzusehen. Ich drehte mich um und schob Tanja aus dem Vorraum. Ivo kam mit Witterlich heraus und wir brachen sofort auf. Beim übernächsten Gebäude hielten wir an. Es musste ein Gemeindeamt gewesen sein. Wie durch ein Wunder unversehrt hing ein Plakat an der Tür, das einen Kommissar in Uniform zeigte. Er saß ruhig, fast könnte man sagen schicksalsergeben, auf einem Abhang, einen Ausdruck um den Mund, vorbei. Ein ebenmäßiges Gesicht, Vollbart, die Arme auf den Knien, roter Kommissarsstern am linken unteren Ärmel, ein Aufruf, sich den Separatisten anzuschließen, konnte das nicht sein, eher diente es zur Abschreckung. War das der Kommissar aus Vitalis Traum? Lange Zeit redete niemand. Wir schritten aus, so rasch wir konnten. Ich kam mir vor, als liefe ich auf einem endlos rotierenden Laufband. Wir näherten uns einer Stadt. Die ersten Gleise seit einer Ewigkeit überwachsen und lange nicht mehr befahren. Maschendrahtsäune, verfallende Werkshütten, WC-Kabine mit eingetretenen Türen, an den Rändern aufgefressen von Plastikkrebs. Der Schlot dort hinten, das muss eine Fabrik sein, sagte Ivo. Dieses Gebäude dort könnte eine Unfallklinik sein«, gab ich zurück. »Seht ihr das?« »Was?« »Dieses Denkmal auf dem Sockel.« »Es ist nur ein Kopf.« »Ziemlich großer Kopf«, sagte Ivo. »Ach der!« Fleisch weg, nur die Schädeldecke und die Stirn bis zur Nase waren vorhanden, ein Metallstab mitten durch den Kopf hinauf. Der Schädel sah wahrhaftig wie ein Totenkopf aus, der erhalten werden sollte, weil er ein letztes Zeugnis vor einer historischen Zeitenwende darstellte. Ich sah, wie er mich kieferlos aus einer Vitrine in einem Völkerkundemuseum angrinste. Schauerhafte Trophäe, in ferner Zukunft ewiglich missverstanden. Die Provenienzforschung würde sich damit abmühen. Über den Horizont rannten untreue Wolken. Wir könnten ihm ein paar Blumen in die Kieferhöhle legen, sagte Ivo. Hey, Dreckskerl, erzähl uns etwas, sagte Vitali. Wie war's im Zug von Zürich nach Hause? Hattest du Angst, nicht mehr rauszukommen? aus vollem Hals eine böse Hymne, von der ich nur wenige Worte erfasste, darunter die Bezeichnung für Schweinefett und etwas wie der dritte Weltallkongress. Ich meinte zu hören, dass Arbeiterinnen die Buchstaben des Namens Wladimir mit rot gefärbten Kufen an ihren Schlittschuhen ins Eis fuhren. Aber das ging über mehr als eine Zeile. Unsere sich überschlagenden Fantasien über diese Stadt erwiesen sich als genau das. Fantasien. Menschen sahen wir keine. Gut möglich, dass wir uns in einem früheren Sperrgebiet befanden. Ich wartete darauf, einer wild gewordenen Selbstschussanlage gegenüberzustehen, gar auf eine Tellermine zu treten, die sich als Riesendistel ausgab. Bilder von durch die Luft fliegenden Gliedmaßen zogen mir durch den Kopf, falsch, von meinen fliegenden Armen und Beinen und Köpfen und woraus ich sonst bestehen mochte. meinen fliegenden Armen und Beinen und Köpfen und woraus ich sonst bestehen mochte. Allmählich veränderte sich die Umgebung ins Ländliche. In der Landschaft zogen sanfte Wellen auf. Dort das kleine Haus rief Vitali dann plötzlich. Ich sah es erst nach ein paar Metern. Es war mit grauem Stroh gedeckt, schminkte sich in eine Kuhle. Wir wurden fröhlich, unsere Schritte desgleichen. Wir schauten uns an, als hätten wir in der Lotterie gewonnen. Vitali musste hüpfen, kann sein, dass er für etwas trainierte, eine Karriere, die er uns verheimlichte. Wir anderen liefen in Serpentinen den Hang hinunter. Ein paar Mal kreuzten sich unsere Wege. Tanjas Haare flatterten im Wind. Ivo rempelte mich nicht an, wich elegant aus. Das letzte Stück sprang ich und landete beinahe in einem überwucherten Blumengarten. Ist da jemand? fragte Vitali. Auf einem Tisch vor dem Haus lagen Äpfel, rund um den Stängel fleckig, wie das Maul der schwarz-weißen Katze, die daneben saß. Ich klopfte an die Haustür. Als sich nichts rührte, zart ich ein. Hausgötter, die ich im Dunkeln nicht sehen konnte, verströmten Lavendelduft. Hausgötter, die ich im Dunkeln nicht sehen konnte, verströmten Lavendelduft Zwei Leute redeten, eine Frau und ein Mann, über verschwundene Bewohner Am Abend waren sie noch da, während der Nacht verschwanden sie, sagte eine Stimme Kommt ihr, rief ich über meine Schulter Ivo schob mich weiter, die Stimmen waren weg Mir blieb nichts anderes übrig, als an die offenstehende Stubentür zu klopfen Ivo schob mich weiter. Die Stimmen waren weg. Mir blieb nichts anderes übrig, als an die offenstehende Stubentür zu klopfen. Ich trat ein. Ich hatte keinen Auftrag hier. Was ist, Jensi? Ivo schob sich an mir vorbei in das Zimmer. Er ging umher, zog eine Tischlade auf, Besteck rumpelte. Als er einen Radioapparat einschaltete, kam wüstes Geplärr heraus. Ein Milizsender? Die Separatisten? Selten hatte ich Leute so grässlich sprechen hören, aber das kam von den Störgeräuschen und dem schlechten Empfang. Fang. Mach das aus, rief ich. Jetzt will ich den Rest auch wissen, sagte er. Mir reicht es. Ich sah zu, dass ich hinauskam in die Sonne, zu den Äpfeln, zu der Katze, zu Tanja und Vitali. Um die anderen nicht zu beunruhigen, dass ich das, was ich gehört hatte, hinaus posaunte. Die Engel mit den Posaunen fielen mir ein. Das war unvermeidlich, zum Glück sagte mir dieses abgegriffene Bild fast gar nichts mehr. Es blieben leblose Steinfiguren auf einem sehr fernen Kirchenbalkon, über dessen Balustrade sich Touristen gefährlich weit hinaus lehnten. an einen Kirchenbalkon, über dessen Balustrade sich Touristen gefährlich weit hinaus lehnten. Die Katze mit dem lustigen Gesicht strich um meine Beine. Ich hätte gerne keine Stiefel angehabt, um sie besser zu spüren, nicht nur das kleine Gewicht. Ich hob sie auf und setzte sie auf den Tisch. Tanja streichelte sie vorsichtig mit dem Rücken ihres Zeigefingers. Ich striche über das Fell. Ich ahne, was sich hier abgespielt hat, sagte Tanja. Ein Wunder, dass die Katze überlebt hat. Und nicht schlecht, sagte Vitali. Verhungert sieht die nicht aus. Wer kann sie gefüttert haben? Niemand kann sie gefüttert haben, weil alle verhungert sind. Wenn sie die Kraft gehabt hätten, hätten sie die Katze verzehrt. So war es wohl umgekehrt. Du meinst, ich konnte den Satz nicht zu Ende führen. Als ihre kleine Schnauze an meinen Handballen schmiegen und mich beißen wollte, zuckte ich zurück. In diesem Augenblick kam Ivo aus dem Haus. Er war bleich. Sein Haar hatte jegliche Ähnlichkeit mit Menschenhaar verloren. Er hatte das Wischenhaar verloren. War ihm der kleine Gummiring abhanden gekommen, mit dem er sonst seinen mickrigen Pferdeschwanz zusammenband? Die Strähnen waren ausgetrocknet wie das Haar von toten Pferden, seine Augenbrauen zur Unsichtbarkeit gebleicht. was ist los mit dir? Er schleppte sich zur Bank beim Tisch, tappte nach der Katze. Besser nicht, warnte ich ihn. Er ließ die Hand vom Tisch fallen. Tanja setzte sich zu ihm und umarmte ihn. Sie flüsterte auf seine Wange, bis er wieder etwas Leben im Gesicht hatte. Sie beachtete uns nicht im Geringsten. Nach einer Weile ging es ihm besser, er richtete sich auf und schaute umher. Die Stimmen. Ivo musste sie auch gehört haben. Wir hatten uns der Kollektivierung verweigert und bereits den Großteil unseres Getreides abgegeben, nur behalten, was uns ein paar Tage überleben sicherte. Nur behalten, was uns ein paar Tage überleben sicherte. Seit einem Jahr hatten wir die Quoten nicht erfüllt, die immer größer wurden, je mehr man uns wegnahm. Danach holten sie unsere einzige Milchkuh. Als die Bolschewiken kamen, zogen sie unserer kleinen Tochter, die nur noch Haut und Knochen war, mit der Peitsche über das Gesicht, weil sie ein paar Getreidekörner aufheben wollte. mit der Peitsche über das Gesicht, weil sie ein paar Getreidekörner aufheben wollte. Ivo schlug die Hände vor das Gesicht und fing zu weinen an. Es ist zu spät, sagte ich. Wir können Ihnen nicht mehr helfen. Lass uns gehen, Ivo, bat Tanja. Wir müssen weg. Hier vergeht die Vergangenheit nicht. Hier vergeht die Vergangenheit nicht, ist auch ein Stichwort für mich jetzt, denn du blendest ja in die Vergangenheit der Ukraine zurück und das verknüpfst du auch mit der Familiengeschichte von Jens. Es gab da einen Urgroßvater, der auch im Krieg war, im Zweiten Weltkrieg war, der in der Ukraine stationiert war und der ja offensichtlich an Kriegsverbrechen beteiligt war, erschießungen das ist das ist das was jens befürchtet er weiß es nicht er weiß es nicht er weiß es nicht er sucht danach und ich weiß es selber auch nicht ich glaube schon eher dass das der olle krüger wieder genannt wird, dass der ein Kriegsverbrecher war. Naja, du lässt die Antwort darauf letztlich offen. Man weiß, es sind schreckliche Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine passiert, also von der deutschen Wehrmacht begangen auf die unterschiedlichste Art und Weise. Und für Jens ist das eine Belastung, natürlich diese Überlegung oder dieser Verdacht, sozusagen der eigene Urgroßvater könnte daran auch beteiligt gewesen sein. Hast du dich historisch mit diesen Dingen näher beschäftigt? Ja, ich habe ziemlich viel gelesen über den Angriffskrieg der Deutschen und alle möglichen Sachen. Wie gesagt, seit 2014. Es gibt tolle Bücher natürlich. Es gibt die bekannten Timothy Snyder. Aber ich habe auch sehr viele sehr entlegene Bücher gelesen über zum Beispiel ein französischer Priester, der hat Chamois geheißen, der war mit einer Gruppe von Leuten, die erstmals alte Leute befragt haben an diesen Erschießungsstellen in der Ukraine. Also die waren in dieser Zeit noch kleine Kinder, können sich aber erinnern, dass wie die Deutschen gekommen sind, hat es immer geheißen, zum Mittag wird dann gekocht, und es ist dann aufgekocht worden, die Ukrainerinnen haben gekocht, und die Männer sind in den Wald gegangen und haben ihr schnutziges Geschäft dort erledigt. Und die Kinder, die das mit angesehen haben, die waren natürlich sehr verstört und haben sich das nicht sagen getraut und auch lange nicht gesagt. Und erst dieses Buch ist, glaube ich, vielleicht erst nach 2000 erschienen oder noch später. Das war so die Einstiegsdroge, möchte ich sagen, wo ich gewusst habe, da werde ich dann weiter recherchieren. Und so ist es auch geschehen. Und das hat natürlich diese historische Situation eine traurige Aktualität bekommen, denn vom Kriegsverbrechen ist natürlich auch in der Gegenwart wieder die Rede Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung und damit verbunden natürlich auch diese schwierige Frage, in der die Kontroversen derzeit ausgetragen werden über die jetzige Situation. Wie konsequent muss man einem Aggressor, einem politischen Aggressor, militärischen Aggressor von außen entgegentreten? Soll man ihm entgegentreten? was ist der Preis dafür und so weiter. Lauter im Grunde genommen sehr, sehr schwierige Fragen. Ich frage dich jetzt nicht, ob du eine Antwort drauf hast, das wäre glaube ich zu komplex, oder? Ich kann dir schon eine Antwort geben, aber ich glaube mittlerweile, ich habe ja die Friedensbewegung sozusagen in den 70er Jahren, in dieser kleinen Stadt. Aber es ist dann stärker geworden. Es war dann bei einer Friedensdemo in Weidhofen, da habe ich dann meinen Mann kennengelernt und das war für mich eigentlich so immer mein Mindset, gegen Krieg und so, aber das hat sich gründlich geändert, gründlich, durch diesen Krieg. Das ist das erste Mal, dass ich mir gedacht habe, dass man das stoppen muss. Man muss es stoppen. Und es geht nur mit Waffen. Und ich kann die Ukrainer wirklich nur aus ganzem Herzen bewundern, mit welchem Mut und mit welcher Selbstaufopferung sie das sozusagen für uns leisten, eigentlich für uns auch kämpfen. Und insofern ist meine Meinung da ganz klar, obwohl ich natürlich da jetzt leicht sagen kann, ja, ich bin für diese Waffenlieferungen. sagen kann, ja, ich bin für diese Waffenlieferungen. Alle meine Freunde in der Ukraine sind dieser Ansicht. Und wenn ich höre, was zum Beispiel der Sergei Schadan, ein wunderbarer ukrainischer Autor, der in Karkiv noch lebt, was der berichtet, was der leistet, und dann gibt es also irgendwelche friedensbewegte Tussis, die dann ihre Briefe schreiben. Also ich finde das unerträglich. Ja, ich bin auch immer sehr befremdet, wenn dann von irgendjemandem bei uns gute Ratschläge der Ukrainer gegeben werden, wie sie sich jetzt zu verhalten hätten eigentlich. Ja, kehren wir aber noch einmal zum Buch zurück. Also wir werden ja dann auch mit Text diese Veranstaltung abschließen. diese Veranstaltung abschließen. Vorher hätte ich gern mit dir noch einmal über deine Art der Figurenzeichnung auch gesprochen. Wir haben ja jetzt sehr markante realistische, auch hart realistische Elemente gehört, die also die Brutalität des Krieges auch sozusagen in den Fokus nehmen. Bei der Figurenzeichnung nimmst du aus meiner Wahrnehmung her die Psychologisierung der Figur eher zurück, was du nicht immer in deinen Arbeiten, so gemacht hast. Für mich bekommen die Figuren dadurch manchmal etwas, als würden sie aus einem Epos, aus einem Mythos auch kommen. Aber nicht nur, es gibt dann immer wieder andere Elemente auch, aber sie bekommen etwas leicht Mythisches für mich, was auch zur gesamten Erzählkomposition sehr gut dazu passt, finde ich. Wir haben ein kleines Vorgespräch vorher darüber geführt, du hast mir gesagt, so bewusst hast du das nicht gemacht, für dich sind sie sehr real, die Figuren. Für mich sind sie wirklich sehr real. Allerdings, ich gebe dir schon recht, diese Figuren haben was an sich, vor allem wenn ich sie sehe, wie sie durch die Landschaft gehen. Sie haben ja kein Fahrzeug, sie gehen und sie sehen dann zum Beispiel einen Regenbogen und sie wissen nicht, wie weit weg ist der. Oder sie sehen irgendein komisches, ein Reiterherr am Himmel. Ich habe das Gefühl, es sind oft so Schablonen, die herumgeschoben werden und sie selber sind aber die einzigen wirklichen Leute. Und ich finde es wahnsinnig interessant, diese Geschichte mit dem Mythos und dass du das so gelesen hast. Du hast auch gesagt, du hast an Beckett gedacht. Ja. Oder Kafka, da fühle ich mich natürlich sehr geehrt. Beckett würde mir sofort auch einfallen, weil sie im Grunde, obwohl sie dauernd unterwegs sind, sie warten ja auf etwas. Ich möchte sagen, sie warten gehend auf diese Halbinsel zu. Es geht ja in Richtung der Krim, obwohl die nie genannt wird, aber es ist eine mythische Halbinsel und dort ist ihre Wallfahrt zu Ende. Dort wird sie etwas erwarten, das sie noch nicht, sie wissen nicht, was es ist. Und du machst ja auch offenes Ende, das kann man so sagen jetzt, weil man keinen Krimi-Schluss verrät oder irgendetwas auf diese Art und Weise. Aber auch wenn es ein offener Schluss ist, ich denke, so wie deine Figuren miteinander umgehen, teilweise es gibt heitere, es gibt berührende Augenblicke auch immer wieder. Es ist kein trostloses Buch. Also es gibt schon diesen Hoffnungsaspekt, diese Menschlichkeit immer wieder, von der man hoffen kann, dass sie sich doch wieder dominanter wird, sozusagen. Also das ist auch so eine Botschaft, die ich aus dem Buch mitgenommen habe. Das gefällt mir sehr gut und das hast du ja auch geschrieben. Und das war wirklich, das ist ein ganz der Gedanke ist noch nie wo aufgetaucht. Und ich habe mir nicht gedacht, lass die menschlich sein oder mach die menschlich. für mich waren sie ja die ganze Zeit Menschen, aber ich finde es sehr schön, dass man in diesem Wahnsinnskrieg, den wir jetzt noch dazu vor Augen haben, dass man sich besinnt, dass es eben noch etwas anderes gibt. Und dass der Mensch schon die Freiheit hat, das auch zu tun. Ja, ja. Also insofern hat es auch etwas Appellatives, aber nicht auf eine aufdringliche Art und Weise für mich. Gut, Evelin, bevor du jetzt die letzte Textstelle liest, meine Damen und Herren, werde ich jetzt gleich die Abmoderation vornehmen, weil wir mit Text schließen möchten. Ich hoffe, Sie haben einen guten Eindruck von diesem Buch bekommen. Ich habe es mit großem Interesse, mit großer Anteilnahme auch gelesen. Ich wünsche deinem Buch, nachdem es von der Verlagsseite her in der Vorgeschichte nicht so ganz einfach war, alles Gute und bitte dich um die letzte Textstelle. Danke vielmals für alles. Weißt du, was ich mir wünsche, Tanjushka? fragte Ivo. Eine Skihütte für dich und mich oberhalb von Garmisch. Gott Ivo. Tanja bekam Tränen in den Augen. Dort ist alles ganz sicher. Es gibt keine Scharfschützen außer den jungen Veteranen des Gebirgsjägerbataillons und die kann man verhaften lassen. Ivo nahm sie in die Arme. Über ihren Kopf hinweg schaute er zu mir und zog einen Schmollmund, ehe er sein Gesicht in ihrem Haar versteckte. Schmollmund, ehe er sein Gesicht in ihrem Haar versteckte. Ich hatte schon wieder vergessen, wie Tanjas Haar rauch, wenn es frisch gewaschen war. Ich hätte gern jede ihrer Strähnen entlang geschnüffelt, gewaschen oder nicht, solange sie keine Läuse hatte. Bis jetzt hatten wir das Glück gehabt, von dieser Plage verschont geblieben zu sein. Ich schloss die Augen und versuchte, etwas von ihrem Geruch zu erhaschen. Ich träumte blitzschnell, dass ich meine Nase in ihre Unterwäsche steckte, mit dem Finger den Steg in ihrem Höschen zusammenschob, um zu erfahren, wie sie dort rauchte. Um nicht verrückt zu werden, öffnete ich die Augen. Mein Blick fiel in den von Vitali. Er wusste genau, wo ich gerade gewesen war. Er sagte kein Wort, schaute ruhig und traurig direkt in meine Sehnsucht hinein. Wir setzten uns in Bewegung. Nach einer Weile sahen wir ein rührendes Täfelchen mit einer schwarzen Lokomotive, aus der zwei Rauchwolken aufstiegen. Ich wollte Vitali fragen, wieso bei dieser Art von uralten Tafeln die höhere Wolke größer war, egal ob Fabrikschlot, Ozeandampfer oder Lokomotive. Hey, wartet auf uns, rief Ivo in diesem Augenblick hinter unserem Rücken. Die beiden sahen glücklich aus. Jeder für sich glücklich. Ich wusste nicht, ob das für das Verliebtsein unerlässlich war. Ein Choo-Choo-Train, sagte Ivo, als er das Schild mit der Lokomotive sah. Wie herrlich, was Tanja? In mir schoss die Eifersucht hoch. Ivo hatte einen seligen Ausdruck auf dem Gesicht. So, als sähe er in eine Zukunft mit Spielzeugzügen aus Holz, die klein Ivo durchs Kinderzimmer rattern lässt. Er blutete nach einer Familie. Mehr als wir anderen, bildete ich mir ein. Als wir näher kamen, eröffnete sich uns eine mächtige Gleisanlage, die sich etwa 200 Meter nach hinten erstreckte. Wie viele Gleise sind das? Zehn? fragte ich. Schwer zu sagen. Ich habe das nie berechnen können, sagte Ivo. Die Aufgabe des Beladens und Entladens stelle ich mir höchst anstrengend vor. Es ist schwer zu sagen. Ich habe das nie berechnen können, sagte Ivo. Die Aufgabe des Beladens und Entladens stelle ich mir höchst anstrengend vor. Man schätzt ja, wie viele Personen man pro Waggon unterbringen kann. Alles spielt sich zwischen diesen beiden Polen ab. Waggons beladen, Waggons entladen. Man muss die Wagen be- und entladen, entfuhr es mir. Wir wissen noch immer nicht, wie viele Personen pro Waggon, nörgelte Ivo. Gewiss 40 bis 60, weniger hätte keinen Sinn ergeben, sagte Vitali. Seht ihr die Kreidestriche an den Waggons? Lasst uns das genauer ansehen, schlug Tanja vor. »Vielleicht ist einer der Waggons offen. Würde mich interessieren, man hat so viel darüber gehört.« Zunächst warf mir noch ein Blick auf das Gebäude. Es sah, auch wenn man das von einem Bahnhofsgebäude nicht behaupten sollte, sehr manierlich aus. Es war kaum zerstört. sehr manierlich aus. Es war kaum zerstört. An der Vorderfront hingen gleich mehrere Adler, eine friedliche Koexistenz, die mich an ein ornithologisches Museum denken ließ. Eins der Viecher hatte drei Köpfe. Den mittleren ließ es schlaff zwischen den beiden kämpferischen Hängen, deren Kopf wieder wild gesträubt war. Es sah nach Haargel aus, das erleichterte den Anblick. Ich hätte wetten können, dass die Adler alle miteinander keine lupenreine demokratische Vergangenheit hatten, sprich, sie waren aus diversen Monarchien, Don, Donau, Donbass und wie sie alle hießen, abgehauen. Im Inneren war es steinkalt. Das heruntergezogene Rollo des geschlossenen Schalters hatte ein dezentes Streifenmuster Grau und Graublau. Nichts, was man mit Strandkörben oder Sonnenschirmen auf einer Halbinsel assoziieren könnte. Kein Urlaubsplakat, kein einziger propagandistischer Sonnenstrahl. Plakat. Kein einziger propagandistischer Sonnenstrahl. Ich bildete mir ein, die Hand eines kleinen Mädchens schmiegte sich in meine. Gut möglich, dass es später als die anderen erschossen worden war. Ich hielt die Kälte nicht länger aus. Das war eine andere Kälte als in den Nächten im Freien. Ich rannte zur Tür hinaus auf den ersten Bahnsteig. Nichts von der Sauberkeit hier, aufgebrochene Bodenplatten, da und dort ein paar reinen Bodenfließen, ein höllisches Schachbrett, in dem man ständig die Orientierung verlor. Tanja stand hinter mir und legte mir die Hand auf den Platz zwischen meinen Schulterblättern. Ich wünschte mir, sie würde sie lange dort liegen lassen, damit die ruhige Wärme einströmen könnte, der ich zutraute, mich aus meinen eisigen Explosionen zu lösen. Wir müssen zu den Waggons, zu den Waggons, sagte sie leise. Ich weiß. Waggons, zu den Waggons, sagte sie leise. Ich weiß. Ohne mich um Ivo und Vitali zu scheren, sprang ich vom Bahnsteig zu den Gleisen hinunter. Farblose Büschel wuchsen da und dort aus dem Schotter. Ich musste weiter. Tanja hatte mich bereits überholt. Erst auf dem vierten Gleis standen die ersten Waggons. Wir näherten uns ihnen vorsichtig. Ich presste die Hände an meine Schläfen. Ich brauchte Tabletten, egal welche. Viehwaggons, die Transporte, der böse gelbe Stern. Meine Hände rutschten von den Schläfen zu meinen Ohren. Ich wollte sie mir zuhalten, um die Stimmen nicht zu hören. Liebe, Liebe, Liebe, Freunde? Ja, wollte ich rufen, was kann ich für euch tun? Die Stimmen klangen so verzweifelt. Meine Augen suchten den braunen Waggon nach einem Verschluss ab, einem Griff, den man drehen oder nach unten klappen könnte. Etwas, das diese Tür öffnen und die Menschen, die mich als Freunde riefen, in die Freiheit bringen würde, zumindest auf den schotterigen Boden hier. Jensi, was ist los, sagte Tanja Ivo, Vitali, helft mir mit Jensi es ist etwas Furchtbares in ihn gefahren Sch, sagte ich Liebe Freunde Die drei schauten mich höchst besorgt an Liebe Freunde Liebe Freunde Liebe, nein, liebe Deutsche Liebe Deutsche, lasst uns raus. Kaum hatte ich es ausgesprochen, rannte ich zur ersten Tür, versuchte den Bügel nach rechts zu ziehen. Ibu sprang zu mir, gemeinsam stemmten wir den Eisengriff zur Seite und schafften es, die Tür in Bewegung zu setzen. Mit einem tiefen Donnerton rollte die Tür auf. Exkremente, Blutflüsse, vereiterte Augen, Speichel, der sich mit Speichel gemischt hatte, in ungewollten, der Enge entsprungenen Küssen, der stehende Tod. Ivo hielt sich die Hand vor den Mund. Ich hatte das Gefühl, in meiner Kehle stecke ein Stein. Es war noch nicht das Ende. Ich drehte mich weg, weil aus einer anderen Richtung die Stimme des ollen Krüger kam. Er faselte etwas von Verantwortung und dass es nun darauf ankäme, eine Form der raschen Erledigung zu finden. Keinesfalls dürfe die Nachtruhe der neben dem Gebäude untergebrachten Soldaten gestört werden. Schreie von Kindern, Heulen, Schluchzen, Aufjaulen und Gekreische hätten schon oftmals den am nächsten Tag erfolgenden Einsatz in seiner reibungsvollen Abwicklung beeinträchtigt. Er stelle fest, dass auch er nach solcher Art verhunzten Nächten bestimmte Wörter wie beeinträchtigen, beeinflussen und beinhalten nicht ganz klar aussprechen könnte. Die deutsche Sprache verdiene auch beim Zusammenprall von Vokalen höchste Konzentration und Standfestigkeit. Vielen Dank. Applaus